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Blinder Alarm für Sachsens Bahnidyll?

61 Brücken in Sachsen sind marode – viele davon auf der Strecke Dresden–Chemnitz sowie im Raum Leipzig. Die Bahn spielt das Problem herunter.

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© Thomas Kretschel

Von Michael Rothe

Der Aufschrei war kurz aber laut – und mit Echo. Als hätte jemand von der Göltzschtalbrücke im Vogtland Alarm geschlagen, wie baufällig Sachsens Bahnüberquerungen sind. Tatsächlich sind nicht alle Brücken dort in solch gutem Zustand wie jene sanierte, 1851 eröffnete und mit 98 Bögen auf vier Etagen größte Ziegelbrücke der Welt, auf der Strecke Leipzig–Hof.

20 Kilometer entfernt endet die Bahnlinie Dresden–Werdau. Sie schafft es auf einer SOS-Liste der Grünen-Bundestagsfraktion mit elf maroden Brücken deutschlandweit auf Platz sieben. Insgesamt sind 1 086 Eisenbahnbrücken in der Republik so baufällig, dass sich eine Reparatur nicht mehr lohnt. Das geht aus einer Datenerhebung der Grünen in Auswertung von 16 Kleinen Anfragen an die Bundesregierung hervor.

Fast die Hälfte aller fast 26 000 Brücken im Land ist demnach älter als 80 Jahre – in Sachsen sind es mit 1 224 fast zwei Drittel. Dabei kommt Sachsen im Negativranking noch gut weg, rangiert dank milliardenschwerer Nachwende-Investitionen ins Schienennetz nur auf Rang zwölf unter den 16 Bundesländern. 61 sächsische Brücken sind demnach dringend sanierungsbedürftig, 21 allein im Raum Leipzig.

„Deutschland steht mit jährlichen Pro-Kopf-Investitionen in das Schienennetz von nur 49 Euro im Europavergleich auf einem hinteren Platz, während Länder wie Schweden, Österreich oder die Schweiz ein Vielfaches in ihr Bahnnetz investieren“, schimpft der sächsische Bundestagsabgeordnete Stephan Kühn (Bündnis 90/Grüne). Bei einer geschätzten Lebensdauer von 100 Jahren müssten jährlich 257 Querungen erneuert werden, rechnet der Fraktionssprecher für Verkehrspolitik vor. Aber weniger als die Hälfte sei in den vergangenen Jahren realisiert worden. Immerhin solle es 2019 auf der Sachsen-Franken-Magistrale losgehen, sieht er einen kleinen Lichtblick. Kühn wirft Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) Untätigkeit vor. Statt das Schienennetz zu erhalten, kümmere er sich „um eine Autobahnmaut und bayerische Ortsumfahrungen“.

Ende vergangenen Jahres hatte bereits der Bundesrechnungshof moniert, die Bahn würde trotz der Milliarden Euro vom Bund an der Infrastruktur sparen.

Bahn will Investitionsstau auflösen

Laut Bundesverkehrsministerium gibt es im Schienennetz kein Sicherheitsrisiko. Abschnitte, die unsicher seien, würden gesperrt und nicht weiter betrieben, heißt es.

Schon 2014 hatten die Grünen nach ähnlichen Anfragen die Lage mit „dramatisch“ beschrieben. Damals waren noch zehn Brücken weniger als heute in der schlechtesten Zustandskategorie 4 geführt worden. Im Bahnsprech haben solche Brücken „gravierende Schäden am Bauwerksteil, welche die Sicherheit noch nicht beeinflussen“. Oder: „Eine wirtschaftliche Instandsetzung ist nicht mehr möglich.“

Wie damals reagiert die Deutsche Bahn (DB) unaufgeregt – und spricht vom „Neuaufguss“ eines alten Themas. Alle Brücken würden regelmäßig kontrolliert, heißt es. Der Konzern setze derzeit das größte Modernisierungsprogramm seiner Geschichte um, sagt eine Bahnsprecherin zur SZ. Wie zwischen Bahn und Bund vereinbart, würden zwischen 2015 und 2019 rund 28 Milliarden Euro in die Schieneninfrastruktur investiert. Bis 2019 sollten allein aus diesen Mitteln 875 Brücken modernisiert werden.

2013 hatte Ex-Bahnchef Rüdiger Grube den Sanierungsstau auf 30 Milliarden Euro beziffert und erste Brückensperrungen in Aussicht gestellt. Das Problem habe sich über Jahrzehnte entwickelt, heißt es heute vom Konzern. Ziel sei es, den Stau spätestens ab 2020 durch kontinuierliche Investitionen aufzulösen. In Sachsen würden fast 50 Brücken erneuert oder modernisiert – so in Bautzen, Leipzig, Zwickau sowie auf der Strecke Dresden–Görlitz. „Wir sind weiter zuversichtlich, die Zielvorgaben zu erreichen“, so die Sprecherin.

Steuerzahler muss Verzug ausbaden

„Doch auch wenn die DB mit Hochdruck daran arbeitet, haben wir ernsthafte Zweifel, dass das ehrgeizige Ziel erreicht werden kann“, sagt Robert Momberg, Chef des Bauindustrieverbandes Sachsen/Sachsen-Anhalt. „Der Anlauf hat zu lange gedauert, und die Maßnahmen verdichten sich jetzt auf die nächsten zwei Jahre.“ Nach Auffassung des Hauptgeschäftsführers gibt es nach wie vor zu wenig Ausschreibungen. Wegen fehlender Fachkräfte seien Unternehmen immer weniger in der Lage, ihre Kapazitäten kurzfristig hochzufahren. Momberg fordert unter anderem vereinfachte Verfahren für die Planung und Genehmigung von Ersatzbauten von Brücken. Sachsens Bauindustriechef ist immerhin schon mal froh, dass Bahn und Politik „das Problem erkannt haben und jetzt handeln“.

Tatsächlich ist auch in Sachsen der Anteil abrissreifer Brücken in den vergangenen drei Jahren von 2,6 auf 3,2 Prozent gestiegen. Marco Götze, Vorsitzender der Bundesgütegemeinschaft Instandsetzung von Betonbauwerken, kennt die Folgen mangelnder Wartung. „Über Jahrzehnte hinweg wurde die Instandsetzung unserer Infrastruktur vernachlässigt“, sagt der Diplomingenieur. Ein Aufschieben nötiger Reparaturen führe letztlich zur Kostenexplosion durch den Abriss und Neubau des Bauwerks, den die Steuerzahler ausbaden müssten. Und zu einem neuen Aufschrei.