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Blind Zwiebeln schneiden

Im Jugendhaus erleben Kinder bei einem Projekt selbst, wie es sich mit Behinderungen lebt. Überraschungen inklusive.

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© André Braun

Von Heike Heisig

Roßwein. Thorsten Gruner bewegt sich sicher im Alltag. Zu verdanken ist das draußen auch seinem Blindenhund. Ohne ihn würde man dem Roßweiner kaum ansehen, dass er nichts sehen kann. Doch gerade wegen des Blindenführhundes hat Gruner ab und an Probleme. Personal im Supermarkt fordert ihn auf, den Hund vor der Tür zu lassen. Doch Gruner ist auf das Tier angewiesen – wenn er allein unterwegs ist. In der Gruppe und in kleineren Räumen sieht das schon anders aus, obwohl Rocky auch da häufig nicht von der Seite seines Herrchens weicht. Im Jugendhaus hat er sich unter einem Küchenregal zusammengerollt. Denn dort kocht Thorsten Gruner mit Ferienkindern.

Diese Aktion des Behindertenbeirates Roßwein, zu dessen Mitgliedern Thorsten Gruner zählt, ist die erste dieser Art. Zunächst nähern sich die Kinder und Jugendlichen dem Problem des Nichtsehens. Dann geht es um Gehbehinderungen und darum, auf einen Rollator oder Rollstuhl angewiesen zu sein. Robin war das für ein paar Wochen. Der Zehnjährige will daran besser nicht mehr erinnert werden. Immer, wenn er im Jugendhaus Freizeit verbringen wollte, musste er Hilfe rufen. Betreuer Christian Fanter eilte nach unten und trug den Jungen die Treppen hinauf. „Es war nicht schön, immer auf andere angewiesen zu sein“, so der Zehnjährige.

Kegeln statt kicken

Thorsten Gruner sieht das als gestandener Mann ein wenig anders. „Behinderte können viel mehr, als ihnen zugetraut wird“, behauptet er. Von Diskriminierungen, wie kürzlich dem Zusammenstoß mit einem Brückenbogen, weil ihm der Weg versperrt wurde, erzählt er selten. Dafür lässt er sich nicht lange bitten und berichtet, wie er den Alltag meistert: Er putzt Fenster, selbst wenn Passanten unten auf der Straße das Herz ob seiner Kletterkünste fast in die Hose rutscht. Er erledigt fast alle Arbeiten im Haushalt, während seine Frau arbeiten geht. „Nur Weihnachten, wenn die Deko im Regal steht, wische ich ungern Staub“, gibt er zu. Ansonsten engagiert sich Gruner überörtlich im Blindenverband, ist sportlich aktiv. Das Fußballspielen hat er aufgegeben. Stattdessen kegelt er jetzt. „Blinde spielen auch Darts, Tischtennis oder schießen mit Pfeil und Bogen“, erzählt Gruner. Für Jugendhausmitarbeiter Christian Fanter, seine Kollegin Nora Jesswein, und die Kinder ist vieles davon kaum vorstellbar.

Kaum Freizeitangebote

Mehr als 300 Menschen mit einer Behinderung finden tagsüber Beschäftigung in einer der Werkstätten der Diakonie in Roßwein und Hartha. Doch wie gestalten sie ihre Freizeit? Sitzen sie ausschließlich daheim bei ihren Familien? Wollen sie noch einmal raus, sich mit anderen Leuten treffen, austauschen, gemeinsam etwas anpacken? Viele Fragen und hoffentlich auch bald auf Antworten hofft Friedrich Brixi. Der Vorsitzende des Roßweiner Behindertenbeirates und seine Mitstreiter ermitteln gerade Wünsche für eine oder mehrere Freizeitgruppen für Menschen mit Behinderungen. Ziel ist, diese als dauerhaftes, ergänzendes Angebot zu Arbeit und Familie in Roßwein zu etablieren.

Wünsche können bereits bei Beate Richter im Hauptamt der Stadt Roßwein (Tel. 034322 46611) hinterlassen werden. Ansonsten lädt Brixi für den 22. März ab 18Uhr in die Mensa des Mitteldeutschen Fachzentrums Metall (MFM) an die Döbelner Straße 69 ein. Dort wollen die Mitstreiter des Behindertenbeirates mit Interessierten und deren Betreuern beziehungsweise Angehörigen ins Gespräch kommen und Wünsche notieren.

Im neuen Förderprogramm „Nachhaltige soziale Stadtentwicklung“, in das die Stadt Roßwein aufgenommen werden möchte, sieht der Behindertenbeirat eine Möglichkeit, die Gruppen ins Leben zu rufen und aufzubauen. Den Bedarf gibt es Brixi zufolge schon seit mehreren Jahren. Um das Angebot vorzubereiten, ist der Beirat bereits mit der Kontakt- und Informationsstelle Mittelsachsen (Kiss) im Gespräch. „Unter anderem geht es auch um die Betreuung der Behinderten während der Freizeitangebote“, erklärt Brixi. Die Aufgaben könnte der Behindertenbeirat selbst nicht übernehmen, und auch den Angehörigen seien sie nicht aufzubürden. Daher müsste eine professionelle Betreuung organisiert und finanziert werden. (DA/sig)

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Auch viele andere Dinge können sie nur schwer glauben. Deshalb ist das Probieren an diesem Tag angesagt. Friedrich Brixi vom Behindertenbeirat hat Brillen mitgebracht, die Sehschwächen simulieren. Wer nur noch über 30 Prozent sieht, kann die Hand vor Augen nur noch erahnen. So Käse zu reiben, ist schon abenteuerlich. Doch Jacqueline legt noch eins drauf. Mit einer Schwarzbrille sieht sie nichts mehr und kommt Thorsten Gruners Welt schon sehr nahe. Trotzdem versucht sie sich im Zwiebelschneiden. Sie geht sehr vorsichtig vor. Am Ende sind alle Finger noch dran. Trotzdem ist sie froh darüber, dass sie die Brille abnehmen und wieder sehen kann, wie draußen für ein paar Minuten Schnee fällt.

Mit diesen drei Projekttagen in den Winterferien soll sich die Zusammenarbeit zwischen Jugendhaus-Verein und Behindertenbeirat nicht erledigt haben. Hausleiterin Nora Jesswein kann sich ähnliche Veranstaltungen vorstellen: „Wir wollten erst einmal schauen, wie so etwas ankommt.“ Pläne würden möglicherweise beim gemeinsamen Grillen im Sommer geschmiedet. „Dann überlegen wir, was wir angehen können.“ Ähnliche Aufklärungsrunden bietet der Behindertenbeirat auch in anderen Einrichtungen an. Mit Schulen in Roßwein und umliegenden Städten gibt es eine kontinuierliche Zusammenarbeit.