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Bitte warten, Ihr Leben wird neu gestartet

Seit neun Jahren schlägt ein fremdes Herz im Körper von Bernd Kunath. Mit dem hat er noch viel vor.

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© Sven Ellger

Von Henry Berndt

Zu Besuch bei Freunden. Bernd Kunath kommt durch die Tür des Herzzentrums und entdeckt gleich den ersten alten Bekannten. „Mein Peterle“, ruft er, steuert direkt auf ihn zu und umarmt ihn, während Peterle regungslos auf seiner Bank sitzen bleibt. Wer 25 Jahre mit einem transplantierten Herzen lebt, der muss bei der Begrüßung nicht mehr aufstehen. Außerdem hat Peterle ein bisschen abgebaut in letzter Zeit. Im Vergleich zu ihm wirkt Bernd Kunath wie ein Jungspund auf Wandertour, und das trotz seines kaputten Knies. Er bekam sein neues Herz ja auch erst vor neun Jahren.

An der Schwelle zwischen Leben und Tod: Bernd Kunath 2008.
An der Schwelle zwischen Leben und Tod: Bernd Kunath 2008. © privat

Ein paar Meter den Gang weiter läuft der 53-Jährige einer Arzthelferin in die Arme. Es ist die Frau, die ihn versorgt hat, als er vier Wochen im künstlichen Koma lag. Damals, im März 2008, war er dem Tod näher als dem Leben gewesen. In seiner Wohnung hatte ihn ein stechender Schmerz in der Brust getroffen. „Ein gleichzeitiger Vorder- und Hinterwandinfarkt“, sagt er. „So etwas überlebt man eigentlich nicht.“ Bernd Kunath wusste damals sofort, was los ist, rief seine Tochter an und ließ sie den Notdienst holen. Außerdem sollte sie doch bitte in der Gartensparte anrufen und die Vorstandssitzung absagen. „Ich war völlig klar im Kopf“, erinnert er sich. „Bitte nicht Mutti anrufen“, bat er noch. Sie sollte sich keine Sorgen machen.

Zeit und Anlässe, um sich Sorgen zu machen, hatte Heike in den folgenden Monaten noch genug. Nach mehreren Herzstillständen und einer sofortigen Not-OP quälte sich Bernd Kunath siebeneinhalb Monate mit seinem schwer angeschlagenen Herzen, das nur noch 18 Prozent Leistung brachte, durch den Alltag. Kein Wunder, bei zwei Bypässen und drei Stents. Er war leichenblass und konnte vor Kraftlosigkeit keine drei Schritte mehr gehen.

Wie konnte es so weit kommen? Vorboten hatte es genug gegeben. Die Atemnot beim Treppensteigen, die dauernden Schmerzen im rechten Ellbogen. Dazu war er gestresster Angestellter im Schichtdienst bei der Deutschen Bahn und leidenschaftlicher Raucher. Irgendwie drohte da schon mal ein Hieb. Wenn er aber plötzlich kommt, ist niemand darauf vorbereitet.

Am 23. Juli 2008 wurde Bernd Kunath neu geboren. In einer fünfstündigen Operation wurde ihm ein fremdes Herz eingepflanzt. Erst einen Tag zuvor hatte er davon erfahren. „Ich habe geheult wie ein Schlosshund und die ganze Nacht mit meiner Frau Würfelspiele gespielt.“ Sein Glück lässt sich nicht nachempfinden, aber beziffern: Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland insgesamt 297 Herzen transplantiert, davon nur eins in Dresden. Das bis heute letzte. Im Augenblick sei es schlichtweg kaum möglich, überhaupt an Spenderorgane zu kommen, heißt es dazu vom Herzzentrum. In diesem Moment warten mehr als 700 Menschen im ganzen Land auf ein neues Herz. Sollten sie nicht bald so viel Glück wie Bernd Kunath haben, werden sie sterben.

Vorbild und Seelsorger

Bernd Kunath hat schon viele Menschen sterben sehen. Menschen, die mit ihm gemeinsam gewartet haben, Menschen, die nach ihm warteten, aber auch Menschen, die transplantiert wurden, deren Körper das neue Organ aber nicht akzeptierten. Die Bilder seiner alten Weggefährten hat Kunath in einer Powerpoint-Präsentation zusammengetragen, die er nutzt, wenn er Vorträge in Schulen oder anderen Bildungseinrichtungen hält.

Vor sieben Jahren gründete er am Herzzentrum eine Selbsthilfegruppe für Transplantierte und kümmert sich seitdem um andere Herzpatienten. Für viele von ihnen war und ist er Vorbild, Ansprechpartner und Seelsorger in einem.

Von seiner Wohnung aus, in der er seit 1986 mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern wohnt, sind es zu Fuß kaum fünf Minuten bis ins Herzzentrum. Diesen Weg geht er oft, auch wenn sein böses Knie ihm dabei einige Probleme bereitet. Eine alte Fußballverletzung.

Wäre sein Knie halbwegs gut in Schuss, könnte Bernd Kunath fast alles machen, was so ein normaler 53-Jähriger tut. Er könnte wandern, er könnte Sport treiben, nur Grapefruit soll er möglichst keine essen. Wegen der Säure. Es ist die einzige Einschränkung, die ihm einfällt, mal abgesehen vom ständigen Tablettenkonsum. 34 Stück nimmt er täglich. Orangefarbene, graue, weiße und blaue. Anfangs waren es mal mehr als 60. Nach dem wichtigsten Medikament, das sein Immunsystem so runterfährt, dass es sein neues Herz nicht als Feind ausmacht, hat er seine Katze benannt: Tacrolimus, Spitzname: Taco.

Seine Tablettenrationen sortiert Bernd Kunath immer drei Wochen im Voraus in kleine Boxen ein. „Ich will das Thema nicht jeden Tag an mich ranlassen.“ Seit 2012 ist er Diabetiker und muss sich außerdem noch spritzen. In seinen Job bei der Bahn ist Kunath nach 2008 nicht wieder zurückgekehrt. Er bekommt die maximale Erwerbsminderungsrente. Nebenbei verdient er sich in einer Anwaltskanzlei etwas dazu, als Mädchen für alles.

Dreimal im Jahr feiert er Geburtstag. So richtig mit Geschenken und Familienausflügen. Vergangenes Jahr schenkten ihm Freunde am 28. Juli Karten für die Parkeisenbahn – zur Schuleinführung. Humor, ganz nach dem Geschmack von Bernd Kunath. Überhaupt ist dieser Mann ziemlich lustig drauf, dafür, dass die durchschnittliche Lebenserwartung nach einer Herztransplantation bei 15 Jahren liegt.

„Die Medikamente machen den Körper kaputt, das ist ja klar“, sagt er, aber warum solle er jetzt noch Angst vor dem Tod haben? „Ich habe nur Angst vor Schmerzen und Siechtum.“ Eigentlich sei seine Zeit viel zu schade, um sie mit Sorgen zu verplempern. Er hat noch viel vor. Er will mal Zeppelin fahren, will seiner gerade geborenen Enkeltochter freche Streiche beibringen und dafür kämpfen, dass sich jeder einen Organspendeausweis zulegt. Auch wenn jemand reinschreibe, dass er nicht spenden wolle.

Per Gesetz wird bei Organtransplantationen grundsätzlich ausgeschlossen, dass die Angehörigen des Spenders und der Empfänger je voneinander erfahren. Bernd Kunath weiß trotzdem, dass sein Herz bis 2008 im Körper eines 18-Jährigen aus Ulm geschlagen hat, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Er hat die Todesanzeigen und Zeitungsartikel auf seinem Computer. Kontakt zur Familie des jungen Mannes wird er aber ganz sicher nie aufnehmen. „Andere haben das schon getan“, sagt er, „und es bitter bereut“.

Als Bernd Kunath um sein Leben kämpfte, waren seine Töchter in etwa so alt wie dieser 18-Jährige, dem er sein Leben verdankt. Nicht nur einmal hat Kunath darüber nachgedacht, was er wohl tun würde, wenn sein eigenes Kind hirntot wäre, und er entscheiden müsste, ob die Organe gespendet werden. Er weiß es nicht.