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„Bin ich jetzt tot?“

Der Heidenauer Bombenfund weckt Erinnerungen. Gerd Reinhardt war im Mai 1945 sechs Jahre. Fast erwischte es ihn.

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© Norbert Millauer

Von Heike Sabel

Heidenau. Einmal Heidenauer immer Heidenauer. Gerd Reinhardt ist in der Stadt aufgewachsen und hat bis vor 20 Jahren in ihr gelebt. Seit 1997 wohnt er in Graupa. Doch alles, was in Heidenau geschieht, interessiert ihn nach wie vor. So auch die Weltkriegsbombe, die am 13. November auf der Mühlenstraße gefunden wurde.

Bomben wie diese am 13. November auf der Mühlenstraße gefundene fielen am 8. Mai 1945 auf Heidenau.
Bomben wie diese am 13. November auf der Mühlenstraße gefundene fielen am 8. Mai 1945 auf Heidenau. © Marko Förster
Gerd Reinhardts Mutter in der Küche ihrer Wohnung auf der Kantstraße 5. Zu diesem Zeitpunkt war die beim Bombenangriff am 8. Mai zerstörte Hauswand noch nicht wieder ganz aufgebaut.
Gerd Reinhardts Mutter in der Küche ihrer Wohnung auf der Kantstraße 5. Zu diesem Zeitpunkt war die beim Bombenangriff am 8. Mai zerstörte Hauswand noch nicht wieder ganz aufgebaut. © Foto: privat

Es war eine deutsche Bombe, die Russen erbeutet, mit einem Zünder versehen und am letzten Tag des Krieges auf Heidenau warfen. Hitlerjungen sollen am 8. Mai auf der Elbwiese und vom Rathausdach auf Flugzeuge geschossen haben. Die Rote Armee erlitt Verluste und griff zu Bomben.

Gerd Reinhardt hat schon vor einiger Zeit seine Lebenserinnungen aufgeschrieben. In ihnen spielt auch der 8. Mai 1945 eine Rolle. Als die Sächsische Zeitung nun um Berichte von diesem für Heidenau schicksalhaften Tag bat, holte Gerd Reinhardt seine Aufzeichnungen wieder heraus. Er war im Mai 1945 sechs Jahre alt und wohnte auf der Kantstraße 5.

Das Haus war eines der letzten, das die Gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft hier baute. Die ersten drei Häuser waren 1934 fertig, 1939/40 folgten die anderen. Gerd und seine Familie zogen als eine der letzten Familien ein. „Für die damaligen Verhältnisse konnten die Wohnungen kaum besser sein“, sagt er. Mit Bad, Innen-WC, meist großer Wohnküche, Schlafzimmer, Abstellkammer, Keller und Boden ließ es sich gut wohnen. Einige Wohnungen hatten zusätzlich eine Wohnstube.

Für die Kinder bedeutete der Krieg die Abwesenheit der Väter und war ansonsten weit weg. Die Mütter tauschten Sparrezepte aus, strickten viel, hielten zusammen und zogen ihre Kinder groß. Die ersten Erinnerungen an den Krieg verbindet Gerd Reinhardt mit kriegsgefangenen Franzosen, die im Elbtalwerk arbeiteten. Dann kamen die Bombenangriffe näher. Im Heidenauer Stadtarchiv sind die Angriffe vom 13., 14. und 15. Februar sowie 2. März bekannt – und vom 8. Mai 1945.

An dem Tag verbrannte Gerd Reinhardt mit anderen, meist älteren Kindern, im Erdgeschoss seines Wohnhauses Nazischriften. Um zu sehen, wie es aus dem Schornstein raucht, rannten die Jungs auf den Weg vor dem Haus. In diesem Moment dröhnte Flugzeuglärm aus Richtung Gaswerk. Den Kindern war eingeschärft worden, bei einem Angriff sofort in ihr Haus zu rennen. Das wurde den anderen Kindern zum Verhängnis, erzählt Gerd Reinhardt. Er hatte es am nächsten, die anderen rannten zu den Häusern 7 und 9.

„Obwohl ich nur die ersten Stufen hochlief, hat mich die Druckwelle der Bombenexplosion auf der Schwelle unserer Wohnungstür erreicht und niedergedrückt.“ Er habe seine Mutter danach gefragt: „Bin ich jetzt tot?“, erzählte sie ihm später. In gleichmäßigen Abständen explodierten Bomben im Bleichplan vor der Kantstraße 5, auf dem Spielplatz hinter dem Haus, im Treppenaufgang Dresdner Straße 57 und einem von der Rathausstraße erreichbaren Gartengrundstück.

Schuleingang im Schlafzimmer



Gerd Reinhard weiß noch einige Namen der Kinder, die in ihre Hauseingänge liefen und umkamen: Rolf Braunschweig, Thea Bönisch und der Junge der Familie Mäke. Jochen Lederer wurde schwer verletzt, ihm musste der linke Arm abgenommen werden. Auf der Kantstraße 7 kam ein Kleinkind um, auf der Dresdner Straße 57 Gertrud Becker. Im Stadtarchiv gibt es aus dem Frühjahr 1945 nur Augenzeugenberichte. Entsprechend variieren die Zahlen über die Toten des 8. Mai.

Einige sprechen von 28, andere von 40. Den verschiedenen Quellen zufolge wurde um die 30 Gebäude zerstört, über 400 teils schwer beschädigt. Wenn Gerd Reinhardt heute daran denkt, wird ihm wieder bewusst: „Ich hatte riesiges Glück. Hätte ich nicht schnell genug reagiert und es so nah gehabt, hätte es auch mich erwischt.“

Nach dem Angriff flüchtete Reinhardts Mutter mit ihm und einem beladenen Kindersportwagen nach Unterdohna zu Verwandten. Das Elternhaus von Gerd Reinhardt auf der Kantstraße 5 war auf der Küchenseite aufgerissen. Im September war diese Seite noch nicht wieder vollständig zugemauert. Deshalb fand die Schuleingangsfeier für Gerd Reinhardt im Schlafzimmer statt.