SZ +
Merken

Bilder, die niemand vergisst

Als 12-Jähriger erlebt Joachim Zahn die letzten Kriegstage in Laußnitz. Mehr als einmal steht sein Leben auf dem Spiel.

Teilen
Folgen
NEU!
© Mattias Schumann

Von Annett Kschieschan

Joachim Zahn merkt man die 82 Lebensjahre nicht an. Er erzählt lebhaft, detail- und gestenreich. In Arbeitsjacke sitzt er an diesem Frühlingsvormittag am Verandatisch. Gerade eben noch hat er mit der Schubkarre kleine Pflänzchen transportiert. Zu tun ist eben immer etwas in der familieneigenen Gärtnerei, die passender am Laußnitzer Pflanzegarten liegt. Natürlich ist Joachim Zahn längst Rentner. Aber das Nichtstun liegt ihm nicht. Hat ihm noch nie gelegen. Und wenn Joachim Zahn erzählt, blitzt sie wieder auf: die jugendliche Abenteuerlust gepaart mit ein wenig Widerspenstigkeit. Joachim Zahn war immer jemand, der sich seine eigenen Gedanken macht und die auch dann ausspricht, wenn er damit aneckt. Vor siebzig Jahren waren es diese Eigenschaften, die ihn manches Mal in Gefahr – aber auch wieder herausbrachten. Nicht zu vergessen, eine große Portion Glück.

Dabei hatte sich das Glück rar wie selten gemacht im Frühling 1945, als die letzten Gefechte im Kamenzer Land ihre Opfer forderten. Es war eine Zeit voller Angst und mit wenig Hoffnung. Mit dem Vorrücken der russischen Armee wurden die meisten Dörfer geräumt. Auch Laußnitz. „Wir sollten alle verschwinden. Nur weg von hier. Aber meine Mutter fragte nur, wo sie denn hin sollte – allein mit vier Kindern“, erzählt Joachim Zahn. Der Vater war zu dieser Zeit dem Volkssturm zugeteilt, jenem letzten Aufgebot, das die Niederlage Hitler-Deutschlands aufhalten sollte. Die Familie blieb in Laußnitz, in dem Haus, das Joachim Zahn noch immer bewohnt. Das Dorf war fast menschenleer. Joachim Zahn erinnert sich lediglich an zwei Männer, die sich der Räumung ebenfalls widersetzt hatten. Was in folgenden Tagen passierte, hat den damals 12-Jährigen geprägt. Der Krieg kam in die idyllische Heidelandschaft. Plötzlich war die Frontlinie dort, wo es sonst zum Einkaufen oder in den Gasthof ging. In Laußnitz rollten Panzer ein. „14 fabrikneue ‚Königstiger“ waren plötzlich über Nacht hier bei uns“, erinnert sich Joachim Zahn. Nahe der Kleingärten wurden fünf Geschütze aufgebaut, und 300 bis 400 Soldaten rückten an. Der Junge verfolgte das Geschehen in dem ansonsten gespenstisch leeren Dorf mit großen Augen. Sie wurden noch größer als plötzlich ein Flugzeug am alten Geräteschuppen – dort, wo heute der Parkplatz unweit der großen Kreuzung liegt – landete. Der Generalfeldmarschall, der der Maschine vom Typ Fieseler Storch entstieg, gab schließlich den Angriffsbefehl. Gefeuert wurde in Richtung Königsbrück, wo sich Soldaten der russischen Armee verschanzt hatten. Ein paar davon hatte Joachim Zahn bereits gesehen. Als er in einer Mischung aus Not und Abenteuerlust mit dem Rad nach Königsbrück gefahren war, um – verbotenerweise – Lebensmittel aus dem dortigen Heereslager zu holen, war er ihnen begegnet: einer knappen Handvoll russischer Soldaten, die sich am Berg zwischen Königsbrück und Laußnitz eingegraben hatten. „Sie sahen mich, taten aber nichts und ließen mich weiterfahren“, erinnert sich Joachim Zahn. Er vermutet, dass die Soldaten im folgenden Gefecht starben und an jener Stelle ihr frühes Grab fanden.

Mit dem Spaten erschlagen

Joachim Zahn stockt kurz. Dem Tod begegneten auch Kinder in jenen Frühlingstagen vor 70 Jahren erschreckend oft. Der junge Laußnitzer traf ihn bald wieder. Wieder hatte er sich aufs Rad geschwungen, diesmal in Richtung des Neuen Lagers. Schon von Weitem sah er, dass es auf dem Weg schwere Kämpfe gegeben haben musste. Und dann sah er die Männer vom Volkssturm, die jene Russen erschlugen, die noch Lebenszeichen von sich gaben. Mit dem Spaten. Der Junge erstarrte, trat erst wieder in die Pedale, als die deutschen Soldaten ihn anschrien. Er solle verschwinden. „Ich kann bis heute keinen Krimi gucken. Überhaupt nichts, wo ein Mensch einen anderen körperlich angreift“, sagt Joachim Zahn. Seltsam sei das. Aber es ist wohl ganz normal, dass sich Barbarei für immer einbrennt in Gedanken und Seele.

Mehr als einmal war das Leben des Jungen selbst bedroht. Als er wieder einmal Lebensmittel für die Familie geholt hatte, stoppten ihn deutsche Soldaten. Da war er schon fast vor der Haustür in Laußnitz. Ein Befehlshaber sah die Aufschrift „Heereseigentum“ auf den Packungen mit Schweinefleisch, Marmelade und Presskaffee, deutete auf Joachim Zahn und sagte knapp „Sofort erschießen“. Ein anderer Militär-Angehöriger entschied jedoch „Heute werden keine Kinder erschossen“. Das Wort „Heute“ hallt bis heute nach bei Joachim Zahn. Hatte er wirklich so viel Glück gehabt an jenem Tag? „Gezittert hab ich noch Stunden später, auch noch nachts“, erinnert sich der 82-Jährige. Wenig später musste er mit ansehen, wie russische Soldaten die zwei einsamen Volkssturmmänner erschossen, die in Königsbrück die Brücke an der Pulsnitz bewachten. Wieder war der junge Joachim Zahn auf „Hamsterfahrt“. Und wieder zur vermeintlich falschen Zeit am falschen Ort. „Die Russen drehten sich um und kamen auf mich zu. Ich dachte, jetzt bin ich auch dran“, erzählt Joachim Zahn. Doch die Soldaten umringten den Jungen nur, einer hob die Hand an die Mütze und grüßte – dann zog der Trupp weiter. Der Junge blieb stehen – unfähig, den Gruß zu erwidern oder sonst irgendwie zu reagieren. Einer von vielen Schicksalsmomenten in jenen Tagen.

Erinnerungen aufgeschrieben

So richtig bewusst geworden ist das Joachim Zahn erst später. Als Erwachsener hat er begonnen, seine Erinnerungen an die letzten Kriegstage und die Zeit danach aufzuschreiben. Vielleicht wird mal ein Buch draus. Der Gärtnermeister im Ruhestand lächelt. Es wäre ja schade, meint er, wenn irgendwann niemand mehr weiß, wie es tatsächlich war, damals. Der junge Joachim Zahn hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Nach Kriegsende zog eine russische Kommandantur in Laußnitz ein. Der damalige Bürgermeister bat den aufgeweckten Jungen, ihn zu den regelmäßigen Treffen mit dem General zu begleiten. Zur Sicherheit. Für Joachim Zahn gab es jedes Mal einen Riegel Schokolade. Für den Bürgermeister die Hoffnung, dass man ihn nicht erschießen würde, wenn ein Kind bei den Treffen dabei war. Eines Tages ging es ins benachbarte Glauschnitz. Die Kommandantur hatte angeordnet, dass das dortige Rittergut niedergebrannt werden sollte. „Aber Anzünden musste es ein Deutscher“, erinnert sich Joachim Zahn, der auch das als Zeitzeuge miterlebt hat.

Seine eigene Familie hat die Wirren jener Tage überstanden. Auch der Vater kam nach Hause zurück und Joachim Zahn – der dem Tod im Frühling 1945 mehrfach von der Schippe gesprungen war – wurde erwachsen. Er gründete eine eigene Familie, lernte zwei Berufe, führte seine Gärtnerei bis zur Rente und werkelt bis heute gern im Gewächshaus. Gern würde er es verpachten – vielleicht an einen jungen Gärtner mit Ideen. Das Leben müsse ja weitergehen. Wenn die letzten Kriegstage Joachim Zahn eines gezeigt hatten, dann war es das. Und auch das ist es wert, immer wieder erzählt zu werden.