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Belgien öffnet Geheimakte zu Dutroux

Bislang nicht analysierte Spuren weisen auf einen Kinderschänder-Ring hin.

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Von Detlef Drewes,SZ-Korrespondent in Brüssel

Belgien hat diesen Tag gefürchtet. Denn das Land wird eingeholt von einem dunklen Kapitel: den Kindermorden des Marc Dutroux. Am späten Montagabend entschied die Anklagekammer in Lüttich, nun die letzte Akte des Falles zu öffnen: War der mehrfache Kindesentführer und vierfacher Kindermörder Teil eines Netzwerks? Versorgte er perverse pädosexuelle „Kunden“ mit jungen Mädchen, die dann vor Kameras missbraucht und bei sadistischen „Spielen“ getötet wurden?

Es geht um die sogenannte „Akte bis“ – eine Sammlung bislang nicht ausgewerteter Spuren, die belegen sollten, dass Dutroux (51) kein Einzeltäter war, als der er vor vier Jahren verurteilt wurde. Die Datei ist brisant: Sie enthält etwa 6000 Proben von Haaren, die im Keller des Dutroux-Hauses bei Charleroi gefunden worden waren. Sie gehören nicht dem Kindermörder, nicht seiner Frau Michelle Martin und auch nicht seinen Mittätern. Und ebenso sicher nicht den beiden Mädchen Sabine Dardenne (12) und Laetitia Delhez (14), die die Polizei im Jahr 1996 nach wochenlanger Gefangenschaft retten konnte.

Unvorstellbares Grauen

Und wem gehören die 30 DNA-Profile, die die Akte enthält, die jetzt mit der vor fünf Jahren gegründeten Sexualstraftäter-Datei der belgischen Justiz abgeglichen werden sollen? Dort werden inzwischen Angaben zu 12000 vorbestraften und verurteilten Kinderschändern geführt. Fachleute sollen nun untersuchen, ob die Spuren für neue Ermittlungen reichen. Aber schon fragen vor allem die Eltern der vier ermordeten Kinder Melissa (8), Julie (9), An (17) und Eefje (19), ob nicht Hinweise in jedem Fall neue Untersuchungen rechtfertigen.

Der Fall aus den Jahren 1995/96 hat das Land traumatisiert. Zu unvorstellbar war das Grauen, das die polizeilichen Ermittlungen und die Schilderungen der Überlebenden damals täglich neu ans Licht brachten. Noch größer war wohl nur die Wut der Bevölkerung über Pannen – bei den Sicherheitsbehörden, bei den Fahndungen, beim Prozess. Es gibt so viele Fragen, die nie beantwortet wurden. Ein Jahr lang überwachte die Polizei Marc Dutroux, ohne zu merken, dass dieser bereits zwei Kinder in seine Gewalt gebracht hatte.

Wurde er am Ende von mächtigen Freunden mehr beschützt als bewacht? Wieso warteten die Beamten nach einer Flucht Dutrouxs mehr als eine Stunde, ehe sie die Suche aufnahmen? Als der erste Untersuchungsrichter Jean-Marc Connerotte kurz nach der Festnahme des Kindermörders die Belgier aufforderte, alles, was sie über einschlägige Verbrechen an Kindern wussten, mitzuteilen, brach eine Lawine von Informationen über die Ermittler herein. Darunter waren Aussagen von mehreren jungen Frauen, die Unfassbares zu Protokoll gaben: Sie wussten von Sex-Partys in den besten Kreisen, auf denen Kinder gefoltert und getötet wurden.

Die „Zeugin X3“ sprach von „einem Schloss inmitten eines Parks, wo Kinder – in Käfigen eingeschlossen – darauf warteten, dranzukommen. Die Gruppe von 50 Erwachsenen war immer dieselbe.“ Niemand ging der Spur nach. Auch König Albert II. wurde als Besucher von Sex-Partys genannt. Niemand befragte den Monarchen. Im Laufe der Jahre bis zum Prozessbeginn starben 27 Zeugen, teilweise unter mysteriösen Umständen.