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Babyboom im Bundestag

So viele Kinder wie noch nie: Doch die jungen Mütter unter den Abgeordneten haben es im Parlament nicht immer leicht.

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© Reuters

Von Sven Siebert, Berlin

Vor der Glastür des Plenarsaals parken drei Kinderwagen auf einmal. Im Andachtsraum des Reichstages wird gestillt. Und zwischen zwei namentlichen Abstimmungen drücken junge Mütter jungen Vätern Säuglinge mit vollen Windeln in den Arm. Die parlamentarische Arbeit muss weitergehen. Babyboom im Bundestag.

Als vorerst Letzte ist Irene Mihalic niedergekommen. Die Bundestagsabgeordnete der Grünen brachte vor elf Tagen einen Sohn zur Welt. Das zehnte grüne Baby in der seit zwei Jahren laufenden Legislaturperiode. Ein weiteres wird zum Jahresende erwartet. Die Grünen verfügen im Bundestag über 63 Sitze und sind mit der Geburtenrate von einem Kind je sechs Abgeordnete die wahrscheinlich fruchtbarste Fraktion der deutschen Parlamentsgeschichte.

Aber nicht nur bei den Grünen gibt es viel Nachwuchs. Die frühere CDU-Familienministerin Kristina Schröder hat vergangenes Jahr ihr zweites Kind zur Welt gebracht. Die Dresdner SPD-Abgeordnete Susann Rüthrich kam im Herbst 2013 schon schwanger in den Bundestag. Die Leipziger Sozialdemokratin Daniela Kolbe erwartet dieser Tage ihr erstes Kind. Und bekanntlich ist auch die amtierende Familienministerin, Manuela Schwesig von der SPD, erneut guter Hoffnung.

In den frühen Jahren der Bundesrepublik war der Bundestag ein Ort, an dem sich überwiegend ältere Herren versammelten. Die haben zwar auch das eine oder andere Kind gezeugt – aber keiner wäre auf die Idee gekommen, den Nachwuchs mit ins Hohe Haus zu nehmen. In den Plenarsaal? Während einer Sitzung? Unmöglich!

Die Zeiten haben sich geändert. Das Parlament ist jünger geworden – und weiblicher. Natürlich sind bei den aktuellen Geburten auch die Kinder männlicher Abgeordneter mitgezählt. Aber dass Neugeborene tatsächlich im parlamentarischen Alltag auftauchen, hat auch etwas damit zu tun, dass mehr junge Frauen Mitglied des Bundestages sind.

Kinder im Bundestag bringen aber auch Probleme mit sich, die es früher nicht gab. Die Grünen-Abgeordnete Kerstin Andreae, die vor vier Jahren ihr drittes Kind bekommen hat, empfiehlt den Kolleginnen die Ruhe des Andachtsraumes in unmittelbarer Nachbarschaft zum großen Plenarsaal des Reichstages zum Füttern der Kinder. Ein Raum der Stille als Raum zum Stillen. Denn einen offiziellen Still-Raum gibt es im Bundestag nicht. Es gibt auch nicht ausreichend Wickelmöglichkeiten in den Parlamentsgebäuden.

Abgeordnete aller vier Fraktionen haben gemeinsam die Initiative „Eltern in der Politik“ gegründet. Kristina Schröder, Susann Rüthrich, die Parteichefin der Linken, die Dresdnerin Katja Kipping und die Grüne Franziska Brantner, Mutter einer fünfjährigen Tochter, gehören zu den Initiatorinnen.

Es geht ihnen, wie Franziska Brantner sagt, nicht darum, um Mitleid zu heischen. Und auch nicht darum, dass der Bundestag den gut verdienenden Abgeordneten die Kinderbetreuung zahlt. „Das können wir selber“, sagt Brantner. Ihr und den anderen jungen parlamentarischen Eltern geht es um Fragen der Organisation, der Termine, der vermeidbaren Belastungen. Die 35-Jährige war vor ihrer Wahl in den Bundestag Mitglied des Europaparlaments. In Brüssel, so berichtet sie, sei es üblich, Gesprächstermine über Mittag anzusetzen. So blieben die Abende für die Familien reserviert.

Überbleibsel der alten Macho-Kultur

In Berlin hingegen sei es immer noch verbreitet, dass Parteien und Verbände zu Parlamentarischen Abenden einlüden. Warum? Brantner glaubt, dies sei ein Überbleibsel der lange herrschenden „Macho-Kultur“ – man traf sich am Abend ohne zeitliche Begrenzung, quatschte und goss sich Rotwein auf die Lampe.

Junge Mütter und Väter würden sich solche Termine gelegentlich verkneifen. Und dann gebe es schnell Kritik – auch vom politischen Gegner –, man sei „nicht präsent“. Gleiches spielt sich am Wochenende im Wahlkreis ab. Und wer im Bundestag an Sitzungen oder Abstimmungen nicht teilnimmt, weil das Kind krank ist oder die Kita bestreikt wird oder weil sich eine nächtliche Abstimmung nicht mit dem Familienleben vereinbaren lässt, rangiert im Internet in Listen der „faulsten Abgeordneten“ ganz oben. Denn das Protokoll des Bundestages verzeichnet keinen Fehlgrund.

Als der Bundestag in der Sommerpause zu einer Sondersitzung zusammentrat, um über das Griechenland-Hilfspaket abzustimmen, mussten auch die jungen Eltern unter den Abgeordneten für einen Tag nach Berlin reisen. Sie organisierten – Schwarze, Rote, Dunkelrote und Grüne ganz einträchtig – eine gemeinsame Betreuung für rund 20 Kinder.

Väter und Mütter im Bundestag können auch keine Elternzeit in Anspruch nehmen, denn das Vertreten des Volkes sieht keine Pause vor. Weibliche Abgeordnete müssen nach Ende des Mutterschutzes – in der Regel acht Wochen nach der Geburt – wieder ihr Mandat wahrnehmen.

„Wir sind in einem ständigen Rechtfertigungszwang“, sagt Brantner. Manche Kolleginnen erfänden Kirchenbesuche oder andere wichtige Termine, um nicht sagen zu müssen, dass sie sich um ihre Kinder kümmern. Ein bisschen Erleichterung – etwa einen Rahmenvertrag des Bundestages für die Kinderbetreuung bei Nacht- und Sondersitzungen – wünschen sich die Eltern in der Politik – „wenn man kein Parlament will, in dem nur 60-Jährige sitzen“.