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Aus der Geschichte: Koweg holte polnische Mitarbeiter

Arbeitslosigkeit in Zgorzelec, Jobs in Görlitz: Da hatte der Chef des Kondensatorenwerks vor 50 Jahren die rettende Idee.

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© Repro: Archiv

Von Ralph Schermann

Polnische Bürger arbeiten in Görlitz. An dem Satz findet niemand mehr etwas ungewöhnlich. Und doch ist es noch gar nicht so lange her, da galt so etwas als Novum, und das hätte jetzt sogar eine 50-Jahr-Feier verdient. Stattdessen wurde daraus ein Jubiläum, an das sich kaum einer erinnert. Das ist bei politisch nicht mehr zeitgemäß empfundenen Daten so, und das ist nicht anders bei Dingen, die es aus verschiedenen Gründen einfach nicht mehr gibt. Oft kommen beide Komponenten zusammen. Wie beim 1952 gegründeten Görlitzer Kondensatorenwerk. Dieser Betrieb schrieb vor 50 Jahren DDR-Geschichte in der Zusammenarbeit mit Polen.

Innerhalb des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) gab es einen deutsch-polnischen Wirtschaftsausschuss, der 1965 die Aufnahme direkter Kooperationsbeziehungen von grenznahen Betrieben empfahl. Als damals die alles entscheidenden Parteigremien diese Empfehlungen noch zwischen SED- und PVAP-Bezirksleitungen diskutierten, wartete das Kondensatorenwerk Görlitz schon mit konkreten Vorstellungen einer solchen Partnerschaft auf. Weil man die Lage vor Ort genau kannte, zielte der Vorstoß darauf ab, zum einen die vielen unbeschäftigten Frauen in Zgorzelec zu erreichen, zum anderen das Problem fehlender Arbeitskräfte auf deutscher Seite zu lösen. Letzteres war sowohl durch Abwanderung in den Westen als auch deshalb entstanden, weil der Bedarf an den hier produzierten Kondensatoren stetig stieg. Direktor Zschille überraschte die Parteigremien mit einer von ihm eingesetzten Kommission, die bis ins Detail den Aufbau der Kooperation ausarbeitete. Fortan konnte das Kondensatorenwerk (Koweg) für sich in Anspruch nehmen, die erste Industriegemeinschaft zwischen Deutschland und Polen ausgerufen zu haben.

Ein Rahmenvertrag setzte am 18. Februar 1966 diese Zusammenarbeit offiziell in Gang, unterzeichnet vom DDR-Minister für Elektrotechnik und Elektronik, Otfried Steger, und dem Chef der polnischen Plankommission, Zdenek Januczko. Als Kooperationspartner galt eine Wroclawer (Breslauer) Produktionsgenossenschaft, die in Zgorzelec Produktionsstätten hatte.

Das Koweg richtete in Zgorzelec zwei Produktionssäle ein, was damals in ganz Görlitz für Aufsehen sorgte. Denn alle Maschinen wurden über die Stadtbrücke geliefert – ein Novum für die Zeit der noch geschlossenen Staatsgrenze. Jeglicher Warenverkehr zwischen Polen und der DDR lief bis 1971 nur über Frankfurt/Oder. 46 Arbeitsplätze wurden in Zgorzelec dadurch geschaffen, und in den Görlitzer Koweg-Betrieben Ufer- und Aufgangstraße erfolgte die Ausbildung der Arbeiterinnen sowie der Brigadiere und Meister.

Vor allem politisch bedeutsam ist das 1966 durch diese Zusammenarbeit ausgelöste Pendlerabkommen. So hieß im verknappenden Volksmund jene zweistaatliche Vereinbarung, die die Grenzpassage regelte. Fortan gab es von Zoll- und Grenzabfertigung über betriebliche Zubringerbusse bis hin zur Entlohnung einfache Regelungen. Auf dieser Grundlage nahmen ebenfalls vor 50 Jahren unabhängig des neuen Zgorzelecer Betriebsteils 174 polnische Frauen direkt eine Arbeit im Görlitzer Koweg auf. Sie wurden zu gleichberechtigten Betriebsangehörigen, bekamen Urlaub, Prämien und Lohnanteile in DDR-Mark.

Programmiert wurde damit aber eine Schieflage in der Versorgung, denn die polnischen Arbeiterinnen gaben ihr deutsches Geld selbstverständlich auch in Görlitzer Läden aus. Bei nie ausreichenden Modeartikeln oder länger werdenden Schlangen in den Fleischereien führte das oft zu Beschimpfungen. Die Lage kulminierte, als Polinnen mit den Mengen ihrer Einkäufe ganze Hausgemeinschaften mitzubeliefern schienen. Dabei war an dieser Situation allein die dünne Warendecke schuld.

Andererseits halten noch heute einige private Verbindungen aus jener Zeit. Es kam zu familiären Freundschaften und sogar deutsch-polnischen Hochzeiten. Koweg blieb auch nicht der einzige Betrieb, andere zogen nach und nutzten das Pendlerabkommen. Ob das Elektroschaltgerätewerk (ESG) oder Feinoptik (Meyer-Optik), ob Volltuchfabrik oder Bekleidungswerke – polnische Frauen bestimmten immer mehr die Görlitzer Betriebsbelegschaften mit. Als in den 1970er Jahren der kleine Grenzverkehr für alle Görlitzer möglich wurde, wurden auch solche deutsch-polnischen Freundschaften aktiv, die heute gern als „verordnet“ dargestellt werden. Man sah ganze Frauenkollektive gemeinsam in Zgorzelec Eis essen, lud sich gegenseitig zu Geburtstagen ein oder verfolgte im Zgorzelecer Kino Filme mit westdeutscher Synchronisation und polnischen Untertiteln. Mit Beginn der Solidarnosc-Bewegung in Polen wurden diese Kontakte wieder weniger. Dann wurde die Oder-Neiße-Grenze geschlossen, das Pendlerabkommen Schritt für Schritt zurückgefahren. Und heute gibt es auch das Koweg nicht mehr, jenen Betrieb, der für alle deutsch-polnischen Firmenkontakte einst den Grundstein legte.