Merken

Aufruhr im Schluckenauer Zipfel

In der nordböhmischen Grenzregion braut sich ein explosives Gemisch aus Armut, steigender Kriminalität und Rassismus zusammen.

Teilen
Folgen
NEU!

Von Steffen Neumann

Die Wut geht um in Rumburk. Auf dem Luzicke-Platz mit seinen malerischen Laubengängen haben sich nach der Arbeit fast 2000 Menschen versammelt, um gegen die grassierende Kriminalität in der Stadt zu demonstrieren. Auf dem Podium vor der Pestsäule spricht der Bürgermeister Jaroslav Sykacek. Doch viele glauben ihm und den anderen Politikern nicht mehr. Die Redner werden ausgepfiffen.

„Ihr denkt nur an eure Pfründe!“, schreit einer. Die Leute ärgert, dass die Stadtväter immer nur unpersönlich von denen redeten, die Gullideckel klauen, das Problem aber nicht beim Namen nennen. Schon schreit einer: „Sprich doch einfach von Zigeunern!“ Auch die Lösungsvorschläge der Politiker reichen ihnen nicht. „Das bringt alles nichts. Sag uns, was ihr mit den Zigeunern machen wollt!“, brüllt der nächste. Dann wird der Ruf laut: „Die Zigeuner müssen weg!“.

Es ist August 2011 in der Tschechischen Republik. Nicht nur in Rumburk, im ganzen Schluckenauer Zipfel macht sich eine gefährliche Stimmung breit. In dem Zipfel, der weit in die sächsische Oberlausitz hineinragt, sind vor allem die „weißen“ Tschechen in Aufruhr, wie die Bevölkerungsmehrheit oft genannt wird. Ein explosives Gemisch aus Armut, steigender Kriminalität und Rassismus hat sich in der strukturschwachen Region mit fast 20 Prozent Arbeitslosigkeit zusammengebraut. Für die Menschen hier ist die boomende Hauptstadt Prag nicht 150, sondern gefühlte 1000 Kilometer entfernt.

Wir fühlen uns abgehängt

Dabei könnte Eva Dzumanova Hilfe aus Prag gebrauchen – ausgebildete Menschen, die etwas bewegen wollen oder sogar Investoren, die Arbeitsplätze schaffen. „Wir haben eine schöne Natur hier, aber fühlen uns manchmal ganz schön abgehängt“, sagt die Bürgermeisterin von Sluknov, zu deutsch Schluckenau, die Stadt, die der Region ihren Namen gibt. Doch statt der Investoren kämen nur solche Leute, die die Hand aufhalten und kriminell sind, so sehenes hier viele. „Wir hatten im letzten halben Jahr einen Zuzug von 200 Menschen. Ob das alles Roma sind, kann ich natürlich nicht sagen, aber allein 100 von ihnen sind ins Neubaugebiet gezogen und dort wohnen nun mal hauptsächlich ärmere Menschen“, sagt Bürgermeisterin Dzumanova.

Eine solche Migration macht sich in einer Stadt mit 5700 Einwohnern bemerkbar. So sei die Kriminalität im ersten Halbjahr um fast 100 Prozent gestiegen. Mit 33 Straftaten auf 1000 Einwohner halte Sluknov einen traurigen Spitzenplatz in der Region, gleich gefolgt von Rumburk. Die Kriminalitätsbelastung komme fast an Großstadtverhältnisse heran.

Viele Tschechen sehen dafür nur eine Ursache: die angeblich stabsmäßige Umsiedlung von Roma in Randgebiete wie den Schluckenauer Zipfel, die seit einiger Zeit vollzogen werde. „Kapitalistische Praktiken“, sagt Ivan Gabal dazu. „Reiche Leute kaufen ein Haus in Prag oder Teplice mit sogenannter Problemklientel und erlassen denen die Mietschulden. Im Gegenzug bieten sie ihnen eine neue Wohnung in einem Plattenbau im Randgebiet wie hier an und zahlen die ersten drei Mieten“, schildert der Soziologe. Häufig ist der neue Hausbesitzer auch Vermieter im Grenzgebiet und kassiert später das Wohngeld vom Staat. Ein sicheres Geschäft, glaubt Ivan Gabal. Das leergezogene Haus in der Großstadt wird danach für ein Vielfaches verkauft. „Für Roma, die von Schulden und Wucher belastet sind, ist das eine Erlösung“, erklärt Gabal. Dennoch würden sesshaft gewordene Roma damit gegen ihren Willen wieder zu dem fahrenden Volk, das sie einmal waren. Nur mit dem Unterschied, dass die Perspektiven in den Randgebieten noch düsterer sind. Gabal glaubt, dass inzwischen die Hälfte der Roma-Bevölkerung in Tschechien von Armut bedroht ist. Ein Teufelskreis ohne Lösung, der für viele Kinder und Jugendliche direkt in die Kriminalität führe.

Diese Problem plagt auch Jaroslav Sykacek, den Bürgermeister von Rumburk. Aber auch er ist hilflos. In seiner Not fordert er seit Monaten von Prag, endlich Schluss zu machen mit dem Personalabbau bei der Polizei. Sonst könne er für die Sicherheit der Bürger nicht mehr garantiert. Die Regierung hatte in den letzten anderthalb Jahren die Personaldecke der Polizei systematisch ausgedünnt, um ambitionierte Sparbemühungen umzusetzen. „Im vergangenen Jahr wurden 12,5 Prozent der Stellen gekürzt“, bestätigt die Sprecherin der Bezirkspolizei Usti, Sarka Polackova. Damit kommen auf 1000 Einwohner nunmehr vier Uniformierte. Im Zusammenhang mit der steigenden Kriminalität ergibt das ein explosives Gemisch, das sich immer wieder entlädt. So komme es öfter im Umfeld von Diskotheken zu Schlägerei mit rassistischem Hintergrund zwischen Jugendlichen, bestätigt die Polizei. Vor einigen Tagen schlugen in Rumburk 20 Roma-Angreifer nach einem Discobesuch sechs tschechische Jugendliche in die Flucht. „Das ist der Anfang von etwas viel Schlimmeren“, prophezeit Bürgermeister Sykacek.

Der Frust sitzt tief

Seit einiger Zeit begegnet Prag der Situation mit Härte. Premierminister Petr Necas schickte 200 Sondereinsatzkräfte in den Schluckenauer Zipfel. Innenminister und Polizeipräsident gaben sich in Rumburk die Klinke in die Hand. „Dieser Einsatz hat keine finanzielle, noch zeitliche Begrenzung. Er dauert so lange wie nötig“, sagte Polizeipräsident Petr Lessy. Er sicherte zu, dass bei der örtlichen Polizei kein weiteres Personal abgebaut werde.

Die Nachmittagssonne scheint warm über den Luzicke-Platz in Rumburk, als Josef Masin das Podium betritt. Er ist kein Politiker, sondern Mitglied einer Gruppe, die sich „Bürgerlicher Widerstand“ nennt. Seinen Auftritt hätte das Rathaus gern verhindert. Man wolle den Radikalen nicht das Feld überlassen, hießt es. Doch das ist offenbar schon nicht mehr zu verhindern. Masin spricht markig, in der Wir-Form. „Wir lassen uns nicht zum Müllplatz der Republik machen“, brüllt er über den Platz. „Die Politik ist schuld, dass wir der Kriminalität tatenlos zusehen müssen, ohne uns wirkungsvoll wehren zu können.“ Das wollten die Zuhörer hören. Sie applaudieren.

Nicht alle auf dem Platz machen die Roma für die Situation verantwortlich. „Viele nutzen die Chance und springen mit auf. Die Kriminalität ist nicht nur Sache der Roma“, sagt Radka Borkova, eine Demonstrantin. Aber die Frustration ist groß. „Mein Mann war bei der Polizei und sollte nach Prag versetzt werden, da hat er gekündigt, weil wir hierbleiben wollen.“ Ihre Freundin erzählt, wie ihre Garage geplündert wurde. „Ein Glück, dass sie das Auto nicht mitgenommen haben, man traut sich nachts nicht zu schlafen.“ Eine Lösung hätte Borkova schon: „Härtere Strafen.“

Der Auftritt des Mannes vom „Bürgerlichen Widerstand“ verfehlt seine Wirkung nicht. Auch Josef Masin kann keinen Vorschlag zur Lösung des sozialen Konfliktes präsentieren. Aber auf einmal setzt sich eine Gruppe von Männern in Bewegung. Kahl rasiert, muskulös und tätowiert bilden sie die Spitze des Zuges. „Es geht los!“, ruft einer. Die Menschen laufen hinterher, als ob sie darauf gewartet hätten. Ihre Wut ist nicht verflogen. Im Gegenteil, viele wollen nicht mehr mit Worten beruhigt werden.

Kahlköpfe an der Spitze

Und die Kahlköpfe an der Spitze wissen, wohin es geht. Erstes Ziel sind drei Hochhäuser im Stadtzentrum, wo angeblich Roma leben. Doch Fehlanzeige. „Hier wohnen nur fünf Familien, für die lege ich meine Hand ins Feuer, sie zahlen immer pünktlich Miete“, verteidigt der Hausmeister seine Mieter vor der johlenden Menge. Die Demonstranten ziehen weiter. Es ist ein gespenstiger Zug. „Wo sind die Zigeuner? Zeigt euch!“, brüllen einige aus der Menge. Die Männer an der Spitze wissen, wo sie suchen müssen. Doch dort versperren ihnen die 200 Einsatzpolizisten den Weg. Sie müssen die Roma vor der Bevölkerungsmehrheit schützen. In die Rufe „Zigeuner raus!“ und „Zigeuner an die Arbeit!“ mischt sich das ratternde Geräusch eines Polizeihubschraubers. Ein Zaun geht zu Bruch, Steine fliegen auf ein Haus. Einer sagt: „Schade, dass das kein Molotow-Cocktail war.“ Nur mit Mühe verhindert die Polizei an diesem Abend Schlimmeres. Bald ist der Spuk vorbei. Doch auf den einschlägigen Internetseiten heißt es schon: Wir kommen wieder.

Viele haben nun Angst, wenn die Polizeiverstärkung aus Prag in ein paar Wochen wieder abzieht. „Dann geht es weiter wie bisher“, ist sich die Demonstrantin Radka Borkova sicher. Die meisten Einwohner wollen nicht, dass gewalttätige Radikale für Ordnung sorgen. Aber sie fürchten auch marodierende Roma, die mitnehmen, was nicht niet- und nagelfest ist.

Die Polizei könne das Problem nicht lösen, sagt Soziologe Gabal. „Die Regierung muss der Integrationspolitik endlich wieder Priorität schenken.“ Aber er fürchte, der Regierung fehlt dazu der Wille. „Für Prag ist das nur ein Randproblem in einer weit entfernten Regionen.“