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Auf zum Reichstag

In Russlands „Junarmija“ lernen Kinder nicht nur den Umgang mit Waffen. Auch das Feindbild ist klar. Der Patriotismus blüht.

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© Reuters

Von Klaus-Helge Donath

Sergej ist aufgeregt. Der Ausbilder zeigt ihm zum letzten Mal, wie er beim Salutieren den Arm zu halten hat. „Lass den Oberarm nicht durchhängen“ weist er den 15-jährigen Schüler an. Dann liest Sergej noch mal den feierlichen Eid, den er gleich ablegen wird. Einen Eid auf die Treue zur „Junarmija“, Russlands Jugendarmee, die Kinder vom zehnten bis zum 18. Lebensjahr in ihre Reihen aufnimmt. Für den Schüler aus Schukowskij im Moskauer Umland ist das ein großes Ereignis. Der Zettel mit dem Schwur ist schon durchnässt.

Die Aufnahme neuer „Jung-Armisten“ findet in der Sporthalle der Schule Nummer 12 statt. Schukowskij ist das Zentrum der russischen Luft- und Raumfahrtforschung, wo auch Testpiloten für MiG Kampfjets ausgebildet werden. In der Sowjetunion war die Stadt für Ausländer geschlossen, nun ist sie aufgeschlossener als andere. Ausländische Zuschauer können an dem Wettbewerb militärisch-patriotischer Jugendgruppen teilnehmen, der nach dem Eid stattfindet. Moskauer Jugendklubs meiden eher den Kontakt. Dutzende patriotische Klubs aus dem Moskauer Umland sind angereist.

Bürgermeister Andrei Woitjuk eröffnet die Veranstaltung. Orden und Medaillen auf der Uniformjacke funkeln. Er gemahnt die Jugend zu unbedingter Wachsamkeit. Pathetische Andeutungen gehören zum Stil der neuen Zeit. Woijtuk diente im Afghanistankrieg und war für die Rückführung der „Grus 200“ zuständig. Dahinter verbargen sich Zinksärge der am Hindukusch Gefallenen. Mindestens 15 000 sollen es in den 80er-Jahren gewesen sein.

Endlich ist Sergej an der Reihe. Er marschiert in die Hallenmitte, salutiert und spricht den Schwur: „Ich, Sergej ..., gelobe feierlich beim Eintritt in die Junarmija im Angesicht meiner Kameraden..“ Durch den Saal hallt ein dumpfes Geräusch. Sergejs Kameradin ist in Ohnmacht gefallen. Der Ausbilder hinter ihm eilt zum Umfallort am linken Flügel. Die Schülerin wird weggetragen. Sergej ist nicht aufzuhalten: „Schwache zu verteidigen und im Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit alle Hemmnisse zu überwinden“, gelobt er weiter. Wums, Aufregung und schlechte Luft werfen die nächste Soldatin um. Sergej fährt stoisch fort. Er schafft es und erhält das begehrte rote Barett, das aus ihm einen Jungarmisten macht.

„Molodez!“ lobt ihn der Ausbilder, ein Prachtkerl sei er. Er hätte sich nicht aus der Fassung bringen lassen, so wie es auch an der Front verlangt würde. Als seien die Schwächeanfälle Teil der Inszenierung gewesen. Die Instrukteure sind pensionierte Militärs, die meisten gingen durch den Fleischwolf der letzten Tschetschenienkriege. Einige stammen aus dem militärischen Geheimdienst GRU. Harte Jungs. Sport und Waffen sind ihre Leidenschaft. Und Russland natürlich. Nun dürfen sie die Jugend auch in Patriotismus unterweisen.

Insgesamt sind in den letzten Jahren in Russland mehr als 6 000 Gruppen und militärisch-patriotische Bewegungen aus dem Boden geschossen. Der Höhepunkt wurde nach der Annexion der Krim erreicht. Die „Junarmija“ soll etwas Ordnung in den Wildwuchs der nationalen Begeisterung bringen. Den Ukas unterschrieb Präsident Putin schon im Herbst 2015. Am 29. Oktober, dem Gründungstag des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol. Zufall?

Putins Jugend marschiert freiwillig im Gleichschritt. In der Sporthalle wechseln sie vom Schießstand zum Tisch mit dem Schutz gegen chemische Kriegsführung in Marschformation. Sie singen und sind fröhlich. Engagierte Eltern rufen krummen Sprösslingen hinterher: „Kopf hoch, Brust raus! Verdammt noch mal!“ Sie sind noch mehr bei der Sache als der Nachwuchs. An den Rekord beim Anlegen von chemischem Schutzanzug und Gasmaske kommt unterdessen niemand heran. Die Jungs kämpfen mit den Schlaufen, Bändern und Laschen. Bei einer Minute und 15 Sekunden liegt der Rekord. Soldatinnen in grünen Tarnanzügen feuern Freunde an. Vergebens, es treibe nur den Schweiß, gesteht Maxim von der Gruppe WOIN später. Woin bedeutet Krieger. Hinter der Abkürzung WOIN versteckt sich jedoch die harmlos sperrige Auflösung „Treu der Vaterländischen Geschichte des Volkes“.

„Die heimlichen Heldinnen sind eigentlich die Mädchen“, sagt Maxim neidlos. Noch nie sei beim Zerlegen und Zusammensetzen einer Kalaschnikow jemand schneller gewesen als ein Mädchen aus seiner Gruppe. „Mädchen sind belastbarer, ausdauernder und zäher“, flüstert Sweta.

Die 15-jährige Schülerin stammt aus Schukowskij, die Eltern sind Militärs. Sie kenne nur diese Welt, meint sie. Die Eltern hätten auch nicht viel Geld. Sweta verbringt die Freizeit in einer Gruppe, die in Stalingrad und an anderen Schauplätzen des Vaterländischen Krieges – so heißt der 2. Weltkrieg in Russland – nach sterblichen Überresten Gefallener gräbt. Was sie sonst noch ausbuddeln, liegt vor den jungen Frauen auf einem Tapeziertisch. Gewehre, Stahlhelme, Messer, Mienen.

Und eine norwegische Sprottendose aus Wehrmachtsbeständen. Ein Rotarmist hatte mit einem Messer den Deckel aufgeschnitten. Die Lasche zum Abziehen des Verschlusses war noch unversehrt. „So etwas kannte er nicht“, lacht Instrukteur Alexei Sokolow, Veteran vom Bund sowjetischer Offiziere, und erzählt damit – nicht ohne Stolz – die Geschichte von zivilisatorischer Rückständigkeit und unbezwingbaren Urgewalten, die auf dem Reichstag endete. Apropos Reichstag: Wird er mit seinen Anvertrauten im Freizeitpark Patriot im Nachbau des Reichstags den Häuserkampf trainieren? Die Frage ist ihm sichtlich unangenehm. „Lassen wir das Thema lieber“, sagt er freundlich.

Fast alle Teilnehmer sind hochmotiviert, ihre Augen leuchten. Was sie hier tun, sei nicht umsonst. Vielmehr eine Vorstufe zu einem „podwig“ – einer Heldentat, meint jemand aus dem Off. Das hat ihnen wohl ein Ausbilder eingeflüstert. Ilja Drobyschew ist besonders engagiert. „Pot ekonomit krow“ steht schwarz auf weiß auf seinem T-Shirt. „Schweiß erspart Blut“ auf Deutsch. „Wenn der Kriegsfall eintritt, stehen wir in der ersten Reihe und wehren den Schlag ab“, sagt er. Sein Gesicht verhärtet sich. Was meint er? „Krieg gegen die Ukraine! Ich bin bereit, dort zu kämpfen“, sagt er, während er sich für einen Lauf im Freien in Montur wirft: schusssichere Weste, Stahlhelm und Kalaschnikow. Im Parcours müssen eine Rauchwand überwunden und Verletzte abtransportiert werden. „Wie viele unserer Soldaten sind in der Ukraine schon gefallen“, sagt Dobryschew. Offiziell ist russisches Militär in der Ostukraine gar nicht vor Ort. Vielleicht haben die Ausbilder ihnen ja doch etwas mehr erzählt.

Neben Körperertüchtigung und Wehrkunde gehören Geschichte und Militärtheorie zum Programm. „Wenn die jungen Leute politische Fragen stellen, beantworten wir auch die“, sagt Iwan Warabjow. „Wir möchten aber, dass sie sich eine eigene Meinung bilden“, sagt der Instrukteur.

Bürgermeister Alexei Woitjuk nimmt kein Blatt vor den Mund: „Wir wissen, wo die Feinde sitzen, warum sollen wir sie nicht beim Namen nennen?“ Die USA, der Westen und die Ukraine sind gemeint. Auch Sweta ist überzeugt, Kiew hätte den Donbass überfallen und bedrohe jetzt Russland. Für den 17-jährigen Agwan steht fest: „Wir müssen auf alles vorbereitet sein, Russland darf das aber nicht nach außen zeigen“. Agwan wird nach dem Abitur an einer Militärhochschule studieren.

Seit Kurzem sind Studienplätze an militärischen Lehrstühlen wieder heiß begehrt, das war jahrelang anders. Inzwischen kommen sechs Bewerber auf einen Studienplatz. In Rostow am Don wurden bereits im Kindergarten Paraden für kleine Vaterlandsverteidiger veranstaltet.

„Das ist ein Verbrechen an den Rechten der Kinder“, sagt Valentina Melnikowa. Seit 1989 leitet sie das Komitee der Soldatenmütter, das Rekruten gegen die Willkür in der Armee verteidigt. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das zu meinen Lebzeiten noch einmal erleben würde“, meint ein älter Mann in Schukowskij im Vorbeigehen.