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Auf die Beine gestellt

Ein Reha-Patient erzählt von Schlaganfall, einer sehr schweren Lähmung und dem Weg zurück ins Leben.

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© Brühl

Von Susanne Plecher

Großenhain. Mit einigen geschickten Griffen hilft Brigitte Hawran ihrem Mann vom Bett in den Rollstuhl. Für die großartige Aussicht aus dem Panoramafenster hat sie jetzt keinen Blick. Großenhains Stadtsilhouette entfaltet sich seit fast vier Monaten jeden Tag aufs Neue vor ihr. In der vierten Etage der Elbland Rehaklinik am Bobersberg liegt die Stadt dem Betrachter zu Füßen. Allerdings bekommen davon nur die wenigsten der hier behandelten Patienten etwas mit. Sie sind schwerstkrank, manche ringen auf der ITS mit dem Tod. Als Heiner Hawran hier ankam, am 6. Januar 2016, war nicht klar, ob er mit seiner Frau jemals wieder über irgendeine Aussicht sprechen können würde. Die Aussicht auf seine eigene Zukunft lag ja selbst in dichten Nebeln. Dass er lebt, ist ein Glücksfall.

Heiner Hawran, Herzpatient mit durch die Diabetes verkalkten Arterien, hatte mehrere kleine Schlaganfälle im Kleinhirn. Der Mann aus Lauchhammer ist damit im Senftenberger Krankenhaus in Behandlung gewesen und zu einer Kur nach Bennewitz nördlich von Leipzig geschickt worden. Das war Anfang Dezember 2015. Dort erlitt er nach nur zwei Tagen einen erneuten kleineren Schlaganfall, und wurde in die Stroke Unit nach Leipzig verlegt. Das hat ihn gerettet. Denn als kurz darauf der richtig große Schlaganfall kam, konnten ihm die Experten der Schlaganfallspezialstation der Uniklinik sehr schnell sehr kompetent helfen.

Nur einer von zehn überlebt

„Herr Hawran hatte eine Basilaristhrombose. Ein Blutgerinnsel hatte eine lebenswichtige Gehirnarterie verstopft“, erklärt Doktor Imanuel Dzialowski, geschäftsführender Arzt der Elbland-Reha und Neurologe. Die Leipziger Kollegen, speziell trainierte Radiologen, haben das Gerinnsel mittels Katheder, der in der Leistengegend eingeführt wurde, abgesaugt. „Neun von zehn Patienten überleben diese Art von Schlaganfall ohne diese Notfall-Therapie nicht“, so Dzialowski.

Das war am 22. Dezember. „Die Ärzte haben mir damals gesagt, dass sie nicht wissen, ob er die Feiertage übersteht.“ Brigitte Hawrans Stimme ist brüchig geworden. Beschwichtigend redet sie auf ihren Mann ein. Die Ereignisse haben ihn traumatisiert. Die bloße Erinnerung reicht aus, um ihn aus der Fassung zu bringen. Tapfer sprechen die Eheleute weiter. „Wir wollen anderen Mut machen, ihnen zeigen, dass es auch Wege aus einer so schweren Krankheit gibt“, sagt Brigitte Hawran.

Nach einer Woche im künstlichen und einer weiteren im Aufwachkoma kam ihr Mann wieder zu sich. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Bei vollem Bewusstsein musste er erfahren, dass er körperlich fast vollständig gelähmt war. Heiner Hawran war unfähig, sich in irgendeiner Form zu verständigen. Er konnte nicht sprechen, keine Gesten machen, nicht einmal die Mimik war ihm geblieben. Außer der Atmung ging nichts, gar nichts ohne fremde Hilfe. Fachleute nennen diesen Zustand, in dem man in sich selbst eingeschlossen ist, „Locked-in-Syndrom“. So kam Heiner Hawran nach Großenhain, auf Station 4, die dem Himmel am nächsten ist.

Jeden Tag fährt Brigitte Hawran zu ihrem Mann. Sie kommt gegen zehn und bricht abends um sieben wieder auf. Sie ist ihm Stütze, Hilfe, Heimat. Sie ist seine Zuversicht. Ohne sie hätte er es nicht geschafft. „Wir haben ein kleines Gartengrundstück mit Bungalow am Wasser. Dort will er wieder hin“, sagt sie und blickt ihn an. In den Augen liegt Hoffnung und Aufmunterung, aber auch eine tief sitzende Erschütterung – und große Erschöpfung. Seine plötzliche, schwere Erkrankung bringt sie an ihre Grenzen. Aber: „Dieser soziale Support, auch vom Rest der Familie und Freunden, ist sehr wichtig. Herr Hawran will wieder gesund werden, deshalb macht er Fortschritte“, sagt der Neurologe. Die umfangreichen ergo-, physio- und psychotherapeutischen Behandlungen zeigten erstaunlich schnell Erfolge. Stück für Stück ging es in Großenhain für Heiner Hawran aufwärts. Als Erstes spürte er seinen rechten Fuß, dann konnte er den linken bewegen. Kurz darauf gehorchten die Finger wieder seinem Willen. Sprechen und essen ließen auf sich warten. Die Lähmung hatte auch den Schluckreflex betroffen: Speichel und Essenskrümel wären ungehindert in die Luftröhre gelangt und hätten eine Lungenentzündung auslösen können. Um das zu verhindern, ist sie bis Mitte April von einer Trachealkanüle blockiert worden.

Laserpointer statt Sprache

Da die Finger aber wieder beweglich waren, ersann Frau Hawran einen Weg, wie sich ihr Mann ausdrücken könnte. Sie verteilte Klebezettel mit Buchstaben, Worten, Satzfragmenten oder häufig genutzten Bitten an der dem Bett gegenüberliegenden Wand. Der Sohn des Rentnerpaares besorgte einen Laserpointer, mit dem Hawran Zeichen für Zeichen anblinkte. „Tag, Herr Chefarzt“, „Hallo Schwester Susi“, „Bitte Kissen aufschütteln“ war dann zu lesen. „Jetzt brauche ich das nicht mehr. Ich habe das System der Klinik geschenkt“, sagt Heiner Hawran. „Vielleicht kann es einem anderen Patienten auch einmal helfen.“

Jeden Tag trainieren Ergotherapeutin Paula Friedrich und Physiotherapeutin Susann Seifert mit ihm. Nach den vielen Wochen und der intensiven Arbeit hat sich Vertrautheit eingestellt. „Kichererbse“ nennen sie ihren Patienten manchmal, weil er trotz allem fröhlich ist und lacht. „Wir haben ihn im wahrsten Sinn des Wortes auf die Beine gestellt“, sagt Susann Seifert. „Dass er sich so schnell das Leben zurückholt, ist ein kleines Wunder. Damit haben wir am Anfang nicht gerechnet“, meint Paula Friedrich.

Vor dem Begriff „Wunder“ schreckt ein analytischer Kopf wie Dr. Dzialowski etwas zurück. Die Besonderheit des Genesungsprozesses seines Patienten Heiner Hawran unterstreicht er dennoch: „Die Hälfte seines Hirnstammes war zerstört. Bei der Schwere der Erkrankung hat sich die neurologische Funktion extrem verbessert. Es ist toll zu sehen, welche Fortschritte er von Woche zu Woche macht.“ Vier davon wird Herr Hawran wohl noch benötigen, um die weiteren Reha-Ziele zu erreichen. Die lauten: psychische Stabilisierung, ein weiterer Kostaufbau, Festigung der Sprache, Besserung der Mobilität.

Inzwischen durfte Heiner Hawran die Station wechseln: Er ist jetzt auf der 3 und seinem Häuschen am See ein großes Stück näher gekommen. Er ist im Januar 70 Jahre alt geworden. Seinen Geburtstag wird er nun aber auch am 22. Dezember feiern.