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Ansturm auf die Zellen

Beim Tag der offenen Tür gab es großes Interesse für die Justizvollzugsanstalt am Postplatz. Nicht jeder bekam Einlass. Und es ging um die Wurst.

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© Ralph Schermann

Von Ralph Schermann

Görlitz. Rolf Hirsch wundert sich. Mitten im Görlitzer Gefängnis bietet er knackige Bockwürste an. Doch niemand greift zu. Warum? Das wird sich am Ende klären. Also am späten Sonnabendnachmittag.

In einem der Höfe hinter dem Postplatz 18 lagen in einem Gefangenentransporter für die Besuchergruppen auch verschiedene Fesselwerkzeuge zur Ansicht bereit.
In einem der Höfe hinter dem Postplatz 18 lagen in einem Gefangenentransporter für die Besuchergruppen auch verschiedene Fesselwerkzeuge zur Ansicht bereit. © Ralph Schermann

Noch aber ist der Tag jung. An der Justizvollzugsanstalt (JVA) am Postplatz drängen sich Trauben von Menschen. Sie haben sich zu Führungen angemeldet am sachsenweiten Tag offener Gefängnistore, mit denen die Justiz an das Jubiläum „300 Jahre sächsische Vollzugsgeschichte“ erinnert. In der Görlitzer JVA hat es immer wieder mal solche Tage gegeben, vor allem nach jedem sanierten Haftflügel. Insgesamt hat der Freistaat seit 1991 rund 15 Millionen Euro in die drei Gebäudeteile hinter dem Gericht gesteckt und das seit 1865 bestehende Gefängnis zur modernen Vollzugsstätte entwickelt. Rund 200 Gefangene müssen sich derzeit in den Hafträumen davon überzeugen, während Besucher normalerweise nur die trutzige Fassade kennen. Am Sonnabend werden es 250 sein, die auf den sieben Führungen zumindest einen Hauch Gefängnis erleben dürfen. Vielleicht tausend weitere Interessenten hätten es ebenfalls gewollt. „Wir freuen uns über das große Interesse, aber mehr geht nicht“, sagt Anstaltsleiter Frank Hiekel und verweist auf die Sicherheitsbestimmungen.

Jede Gruppe erfährt Grundsätzliches von den zuständigen Abteilungsleitern. Etwa, dass 40 Prozent der Gefangenen Untersuchungshäftlinge sind. Strafhäftlinge werden in Görlitz bis maximal zwei Jahre untergebracht. Zu den 74 Bediensteten gehören auch Psychologen, Sozialarbeiter und medizinisches Personal. Arbeit im Haus gibt es nur für 88 Gefangene, dafür aber gibt es ein vielseitiges Freizeitangebot. Ehe mancher Besucher das als übertrieben infrage stellt, erklärt Frank Hiekel schon den Sinn: Gefangene sollen befähigt werden, künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen. Das schützt die Allgemeinheit. Doch Gefangene müssen oft erst lernen, sich in so einem Leben auch zurechtzufinden. „Deshalb gibt es nicht nur Sportangebote, sondern Kochgruppen, Zeichenzirkel, Lesetreffs, Yoga-Kurse – sogar eine Handarbeitsgruppe“, schildert Sozialarbeiterin Lucyna Mitorski. Männer mit Nadel und Faden? „Die Nachfrage ist tatsächlich groß“, bestätigt die ehrenamtliche Kursleiterin Stephanie Riemer. Überhaupt engagieren sich viele bei der ehrenamtlichen Betreuung, allen voran der Verein Straffälligenhilfe Görlitz. Für den stellt Stephanie Riemer den Besuchern noch weitere Aktivitäten vor, etwa regelmäßige Vater-Kind-Treffs in der JVA, Trainingskurse für gewaltbereite Männer oder Unterstützung nach der Strafverbüßung bei der Suche nach Wohnung und Arbeit. Zu den Helfern zählt seit neun Jahren auch die Görlitzer Niederlassung des Nestor Bildungsinstitutes. Sozialpädagoge Peter Otto erklärt den Besuchern, dass im Gefängnis stets für 20 Gefangene Berufsqualifizierungen in Metall- und Elektrotechnik sowie Kochausbildungen laufen. Die so Ausgebildeten können damit später bei der Industrie- und Handelskammer Prüfungen ablegen. „Das vom Europäischen Sozialfonds und von der sächsischen Landesregierung geförderte Projekt ist effektiv und dient dem Ziel einer Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt“, sagt Otto.

Martina Schuster ist an diesem Sonnabend die Besucherin mit der weitesten Anreise. Sie hat sich aus Hessen 600 Kilometer weit aufgemacht. Die über 60-Jährige stammt aus Görlitz, besucht hier auch immer wieder ihre Mutter, und sie liest aus Heimatverbundenheit zu Hause die SZ. „Wir haben als Kinder die Altstadt erobert, sind in jeden Kanal gekrochen und in jede Bauruine, ich kenne hier jeden Winkel“, sagt sie. Nur was „hinter der eindrucksvollen Ziegelmauer am Postplatz ist“, weiß die begeisterte Hobbyfotografin noch immer nicht. Sie rief in Görlitz an und hatte mehr Glück als mancher Einheimische: Sie bekam Frank Hiekel selbst an die Strippe und einen Platz bei einer Führung.

Zu sehen gibt es viel. Zum Beispiel all das, was die Gefangenen liebevoll basteln. Aber auch das, was Bedienstete einziehen: Schlag-, Stich- sowie Tätowierungsgeräte der Marke Eigenbau, diverse Verstecke in ausgehöhlten Büchern für Drogen- und Handyschmuggel. Aber sie sehen auch Sozialeinrichtungen und Kraftsportraum, und zwei Gefangene haben zur Besichtigung ihre Hafträume freiwillig schick gemacht. Beide sind während der Führungen mit bei anderen Gefangenen eingeschlossen. „Das ist nicht selbstverständlich, denn es gibt dafür keine Vergünstigung“, bedankt sich Frank Hiekel bei ihnen. Kein Häftling wird zur Schau gestellt. Nur beim über obere Gittertreppen umgeleiteten Weg zum Hofgang erhascht der eine oder andere Besucher mal einen Blick auf einen „Knasti“. Zu überhören sind einige ohnehin nicht, denn aus Fenstern wird über die Haftflügel hinweg laut debattiert – in allen möglichen Sprachen. Ist das sehr belastend, wenn man mal an einem Sonnabend gar nicht aus der Zelle darf? „Ach was“, sagt ein Strafgefangener, der nicht das erste Mal ein Urteil in der Görlitzer JVA absitzt, „das ist schon in Ordnung, wir haben das ja schon lange vorher gewusst.“ Und das Essen gibt es ohne Einschränkungen.

Auch bei Rolf Hirsch klärt sich schließlich, warum niemand seine Bockwurst will: Beim Einlass werden vor dem Personen-Scan neben Handys, Kameras und Ausweisen auch Geldbörsen verwahrt. Am Wurststand hat dann keiner den Euro fürs Würstchen. Nach dem zweiten Durchgang wird das erkannt, und endlich gehen die Würstel dann doch weg – einschließlich der (nicht mehr warmen) Semmeln. Rolf Hirsch ist selbstständiger Dozent für gastronomische Berufe. Seit 2009 erklärt er wöchentlich in der Görlitzer JVA Rezepte und Zubereitungen. Die so von ihm ausgebildeten Kochschüler haben nach ihrer Haft dann gute Chancen bei Bewerbungen in der Gastronomie. So gilt denn auch im Justizvollzug die alte Weisheit: Alles hat ein Ende. Nur die Wurst hat zwei.