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„An vielen Gerüchten ist nichts dran“

Der Polizeipräsident der Direktion Görlitz, Conny Stiehl, spricht im Interview über seine Informationspolitik, Kriminalität bei Asylbewerbern und die Bedeutung der „110“.

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© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Frank Seibel

Region. Der Skandal um die Silvesternacht in Köln hat eine Frage ins Zentrum öffentlicher Debatten gerückt: Gibt die Polizei politisch gefärbte und geschönte Informationen heraus? Der Präsident der Polizeidirektion Görlitz, die die beiden Landkreise Bautzen und Görlitz umfasst, widerspricht entschieden.

Herr Stiehl, in Köln hat die Polizei eine Situation nicht in den Griff bekommen und sich entschieden, das erst einmal zu verschweigen. Meldet die Polizei nur Erfolgsgeschichten?

Ich weiß nicht genau, was in der Silvesternacht in Köln passiert ist. Unser eigener Anspruch ist es, eine Situation so darzustellen, wie sie war, völlig unabhängig davon, ob wir als Polizei dabei eine glückliche oder eine weniger glückliche Rolle spielen.

Das ist ein guter Vorsatz. Aber es ist doch menschlich, dass man sich eher in einem guten Licht darstellt als über Misserfolge zu berichten.

Natürlich berichten wir auch gerne über Erfolge, wenn wir etwa einen Tatverdächtigen festgenommen haben. Das machen wir aber nicht, um uns zu rühmen, sondern um Bürger zu ermutigen, mit uns zu kooperieren, verdächtige Vorgänge an uns zu melden. Natürlich berichten wir auch gerne mal über einen Erfolg, um das Sicherheitsgefühl der Menschen zu stärken. Aber unsere Erfahrung ist es, dass die Medien eher von den Straftaten erzählen als über Fahndungserfolge.

In Ihren Presse-Infos müssen Sie eine Auswahl treffen. Nach welchen Kriterien arbeiten Sie?

Wir geben pro Tag sieben bis zehn Seiten mit Nachrichten aus der gesamten Oberlausitz heraus. Dabei wählen wir aus etwa 150 bis 200 Vorkommnissen aus allen Sparten etwas aus, um eine möglichst bunte Mischung für alle Medien anzubieten.

Wenn es um Straftaten geht: Wann nennen Sie die Nationalität eines Verdächtigen?

Es muss irgendeinen Sinn haben. Strafrechtlich macht die Herkunft eines Täters grundsätzlich keinen Unterschied.

Aber in einer Grenzregion spielt es möglicherweise eine Rolle?

Wenn ich vermelde, dass in Görlitz ein Einbrecher ein Pole war, was sagt das aus? Sie denken vielleicht, dass er über die Neiße gekommen ist, um hier zu klauen – in Wirklichkeit ist es vielleicht Ihr Nachbar. Die Nationalität allein sagt oft gar nichts aus. Also schreiben wir: ein 35-jähriger Mann ...

Und wenn ein Asylbewerber in einem Geschäft etwas gestohlen hat - melden Sie das dann?

Welchen Unterschied macht es, ob ein Deutscher oder ein Ausländer die Straftat begangen hat? Rechtlich betrachtet, ist das einerlei.

Aber die Vermutung ist weit verbreitet, dass vor allem Flüchtlinge verstärkt als Ladendiebe auftreten.

Wir haben 2014, bevor die Flüchtlinge kamen, in der Oberlausitz, also im gesamten Gebiet der Polizeidirektion, rund 2500 Ladendiebstähle registriert. Diese Zahl wird 2015, also mit einer hohen Zahl von Flüchtlingen, etwa genauso hoch sein.

Aber es gibt offenbar Asylsuchende, die stehlen.

Das sind maximal 10 bis 15 Prozent der Tatverdächtigen. Es ist also falsch, von einem Massenphänomen zu sprechen!

Dann könnten Sie trotzdem sagen: Hier war es ein Syrer oder ein Albaner ...

Das macht doch aber die Nachricht nicht wahrer – sondern es verzerrt möglicherweise das Bild, weil der Eindruck entsteht, Flüchtlinge würden in großem Stil klauen. Das ist aber nicht so!

Es gibt nun aber ein Bedürfnis der Bevölkerung, zu wissen, wie die „Neuen“ ticken: Wie verhalten sie sich, wie sind sie einzuordnen ...

Wir orientieren uns sehr stark an der Interessenlage: Was wollen die Menschen wissen, was ist für sie und ihre Sicherheit von Bedeutung.

Gut, gehen wir davon aus: Viele wollen wissen, wenn Asylbewerber etwas geklaut haben.

Zum einen bin ich kein Freund davon, vereinzelte Fälle herauszuheben. Ich halte es für wichtiger, die Gesamtlage einzuschätzen. Und wenn etwa in einem Supermarkt verstärkt Diebstähle auftreten, und wenn die Täter überwiegend Asylbewerber sind, dann möchte ich das auch so benennen. Und zwar im Sinne einer Warnung an die Bevölkerung: Achtung, hier passiert im Moment besonders viel, seid ein bisschen vorsichtiger als üblich.

Und warum machen Sie es dann nicht?

Was meinen Sie, was der Betreiber des betreffenden Supermarktes uns dann sagt: Wie können Sie das so veröffentlichen? Dann bleiben doch die Kunden weg, weil alle denken, hier seien viele kriminelle Ausländer unterwegs. Es ist also wirklich ein kompliziertes Thema.

Nennen Sie doch bitte ein paar Zahlen.

Nehmen wir als Beispiel Löbau. Dort wird erzählt, dass massenhaft geklaut wird. Wir haben aber im gesamten Jahr 2015 in ganz Löbau nur 36 Ladendiebstähle registriert. Und nur vier davon wurden von Asylbewerbern begangen. Die haben wir übrigens alle überführt.

Also kocht die Gerüchteküche oft über?

Eine unserer größten Aufgaben besteht zurzeit darin, Gerüchte zu überprüfen. Und meistens stellen wir fest: Da ist nichts dran.

Zum Beispiel?

Über Facebook wurde verbreitet, in Bautzener Supermärkten hätten Flüchtlinge mehrfach in die Regale gepinkelt. Ich habe unsere Leute in jeden Supermarkt geschickt, um nachzufragen. Kein einziger Fall wurde bestätigt. Das gab es offenkundig gar nicht.

In Kamenz, zum Beispiel, tauchten früher ganz viele Ladendiebstähle im Polizeibericht auf. Jetzt praktisch nie. Das wirkt schon merkwürdig.

Das mag auch damit zu tun haben, dass wir einheitliche Regeln für die Pressearbeit in der gesamten Oberlausitz eingeführt haben und auch durchsetzen. Was hat es für eine Bedeutung, wenn wir über einen geklauten Schokoriegel informieren? Da ist das öffentliche Interesse an einem Unfall, bei dem es Verletzte gegeben hat, doch größer, oder?

Nun wird aber mittlerweile auch uns Journalisten vorgeworfen, dass wir mit der Polizei unter einer Decke stecken und wir gemeinsam etwas verschweigen. Ein beliebtes Beispiel sind die – gefühlt – vielen Einsätze der Polizei in Asylbewerberheimen, über die dann nichts berichtet wird.

Wir hatten neulich so ein Beispiel in Hoyerswerda. Da wurden wir wegen einer Massenschlägerei gerufen und kamen mit mehreren Einsatzfahrzeugen. Dann stellte sich heraus, dass die Männer einfach nur Fußball gespielt haben und der Ball kaputt gegangen ist. Für die Betreuer im Heim klang das nach großer Aufregung. Und die Menschen draußen hatten sicherlich den Eindruck, dass es ein größerer Einsatz war. Aber es war eine Lappalie.

Wenn die Polizei zu einer nächtlichen Ruhestörung oder zu einem allzu heftigen Familienstreit gerufen wird, zieht das nicht solche Kreise. Warum?

Wenn wir am Wochenende abends zu so einem Fall in der Görlitzer Innenstadt gerufen werden, kommen wir mit einem Streifenwagen. Und die Nachbarn können die Situation ziemlich schnell einschätzen. Zu einer Gemeinschaftsunterkunft mit 200 oder gar bis zu 500 Menschen kommen wir natürlich meist mit mehreren Fahrzeugen, weil wir nicht wissen, was uns erwartet. Das löst Spekulationen aus, natürlich. Aber bislang hat sich meistens gezeigt, dass es um Kleinigkeiten ging – oder wir kamen rechtzeitig, um eine größere Streiterei zu unterbinden.

Rücken Sie beim kleinsten Streit aus?

Wir arbeiten sehr eng mit den Behörden und den Betreibern der Unterkünfte zusammen. Meine Devise ist: Wehret den Anfängen. Wenn sich irgendwo ein größerer Konflikt andeutet, sollen uns die Betreuer vor Ort holen. Wir versuchen dann, den Streit in einem frühen Stadium zu schlichten. Und bisher ist uns das gelungen.

Kommt es eigentlich oft vor, dass die Polizei ausrückt, weil sich Einheimische in ihrer privaten Wohnung zu heftig streiten oder weil jemand zu laut Musik hört?

Das ist für uns alltäglich.

Aber im Polizeibericht steht das nicht.

Weil das die Privatsphäre der Menschen betrifft. Ausschlaggebend ist aus polizeilicher Sicht, inwieweit ein derartiger Sachverhalt überhaupt öffentlichkeitswirksam geworden ist. Was in einer Wohnung passiert, geht die Öffentlichkeit grundsätzlich nichts an.

Wie ist das in einer Flüchtlingsunterkunft? Die stellt der Staat den Menschen zur Nutzung zur Verfügung. Manche Menschen meinen daher, die Öffentlichkeit habe ein Recht zu erfahren, wenn die Menschen sich dort schlecht verhalten oder etwas zerstören.

Wenn etwas mutwillig zerstört wird, ist das Sachbeschädigung. Dann ist es Sache des Betreibers, wie er damit umgeht. Grundsätzlich ist auch ein Zimmer im Flüchtlingsheim genauso geschützt wie eine Privatwohnung. Wenn es im Grundgesetz heißt, die Würde des Menschen ist unantastbar, dann gilt das für alle Menschen, die sich im Geltungsbereich dieses Grundgesetzes aufhalten. Also auch für Asylbewerber.

Aber wenn jemand im Heim kokelt, und es einen Zimmerbrand gibt, ist das wiederum von öffentlichem Interesse?

Ja, weil die Öffentlichkeit mitbekommt, wenn die Feuerwehr anrückt. Dann fragen sich die Menschen, was ist da los - also informieren wir sie darüber, auch wenn wir nicht ausdrücklich danach gefragt werden. Das machen wir übrigens auch, wenn ein alter Mensch den Topf auf dem Herd vergessen hat und es deshalb qualmt.

Warum melden Sie fast nie Fälle von Selbsttötungen?

Der Pressecodex verlangt in diesem Fall große Zurückhaltung, um die Angehörigen zu schützen und die Privatsphäre der Menschen zu wahren, die den Tod gewählt haben. Also geben wir auf Anfrage zwar Auskunft, vermelden solche Fälle aber in der Regel nicht selbst.

Nach Köln ist die Aufmerksamkeit für sexuelle Belästigung besonders groß. Gibt es Fälle in der Oberlausitz?

Sexueller Missbrauch ist ein sehr weit gefasster Begriff. Die Sensibilität dafür hat insgesamt in den vergangenen Jahren sicherlich zugenommen. Aber der größte Teil der Vergewaltigungen und des Missbrauchs findet im privaten Bereich statt und nicht selten in der Ehe. Wir untersuchen zurzeit gezielt, ob sich die Situation in der Oberlausitz im vergangenen Jahr verändert hat.

In Boxberg haben die Menschen im Sommer beklagt, dass männliche Asylbewerber Frauen am Bärwalder See begaffen und am FKK-Strand sogar Fotos mit ihren Handys machen.

Das ist uns offenbar nicht gemeldet worden. Möglicherweise hat die Gemeinde Boxberg da bereits reagiert und Lösungen gefunden.

Was raten Sie einer Frau, die sich begafft fühlt?

Sie soll die 110 anrufen. Das ist ein genereller Appell: Wenn Sie sich unsicher fühlen, rufen Sie die 110 an, und wir werden alles tun, um zu helfen.

Und wenn die Beamten vor Ort finden, dass alles etwas übertrieben war? Muss man dann für den Einsatz bezahlen?

Nein! Niemand muss für den Einsatz der Polizei bezahlen, solange er nicht aus Schabernack oder bösem Willen den Notruf missbraucht. Es geht nicht darum, ob objektiv eine Gefahr vorhanden ist, sondern darum, ob ein Mensch sich gefährdet oder bedrängt fühlt. Rufen Sie dann die 110 an!