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Als Kyrill übers Gefängnis jagte

Der Orkan zählt zu den verheerendsten der vergangenen Jahrzehnte – er sorgte vor genau zehn Jahren für viel Aufregung in der JVA Zeithain.

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© JVA

Von Antje Steglich

Zeithain. Die Wolken hängen an jenem Abend tief und dunkel über Zeithain. Immer wieder erhellen Blitze den Horizont, während der Donner das monotone Prasseln des Regens unterbricht. Dass sich an diesem 18. Januar 2007 etwas Großes am Himmel zusammenbraut, davor haben die Meteorologen schon zwei Tage zuvor gewarnt – als sich der Orkan Kyrill von der Ostküste der USA langsam über den Atlantik schob, um schließlich über Mitteldeutschland mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 200 Kilometern pro Stunde zu wüten.

Januar 2017:  Zehn Jahre nach Kyrill sind die Spuren der Naturgewalt längst beseitigt, doch viele Mitarbeiter können sich noch sehr lebhaft erinnern.
Januar 2017: Zehn Jahre nach Kyrill sind die Spuren der Naturgewalt längst beseitigt, doch viele Mitarbeiter können sich noch sehr lebhaft erinnern. © Sebastian Schultz

Viele Schulen und Kindergärten haben deshalb schon seit Mittag geschlossen, zahlreiche Unternehmen haben extra zeitig Feierabend gemacht. Zu Recht, wie sich später zeigt. Denn die Kraft von Kyrill ist enorm. Er knickt zahlreiche Bäume wie Streichhölzer um. Im Riesaer Stadtpark genauso wie in der Gohrischheide. Und er macht auch nicht Halt vor massiven Gebäuden wie den Plattenbauten auf der Villerupter, der Dresdner oder auf der Grenzstraße in Riesa-Weida, den Einfamilienhäusern in Leutewitz oder der JVA Zeithain.

Mit einem lauten Knall deckt der Orkan das halbe Dach vom Hafthaus C ab, das mit voller Wucht auf Ballfangzaun und Basketballkorb knallt. Die Fernsehanlage ist genauso hinüber wie die Entlüftung, in kürzester Zeit bahnt sich zudem das Regenwasser einen Weg auf den Stationsgang und in das Dienstzimmer. „Ich wurde abends angerufen. Aber es war gar nicht möglich, reinzufahren“, erinnert sich die Leiterin der JVA-Bauverwaltung Nordis Schwäbe an jene Nacht. Bei diesem Sturm rauszugehen, ist lebensgefährlich.

Bis zu 232 km/h schnell

Der Deutsche Wetterdienst ordnete Kyrill unter die schlimmsten Orkane Deutschlands der vergangenen fünf Jahrzehnte ein.

Dazu zählen auch der sogenannte Niedersachsen-Orkan im Januar 1972 mit Spitzengeschwindigkeiten bis zu 245km/h, Orkan Capella im Januar 1976 mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 145km/h, Orkan Wiebke in der Nacht zum 1.März 1990 mit bis zu 285km/h sowie Orkan Lothar im Dezember 1999, der mit bis zu 272km/h über Europa fegte.

Bei Kyrill wurden Windgeschwindigkeiten bis zu 232 km/h in Europa und 202 km/h in Deutschland gemessen.

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Die Bahn hat mittlerweile deutschlandweit – und erstmals in der Geschichte des Unternehmens überhaupt – den Schienenverkehr nahezu komplett eingestellt. Auch der Saxonia-Express zwischen Dresden, Riesa und Leipzig fährt nicht mehr, zahlreiche Reisende sitzen über Stunden unter anderem auf dem Riesaer Bahnhof fest. Zwischen Riesa und Großenhain sind zudem mehr als 20 Straßen vor allem wegen Unfällen und umgestürzter Bäume gesperrt. Zum Beispiel die B 101 bei Frauenhain oder die Straße zwischen Strehla und Oppitzsch.

Mancherorts verschlimmert eine dünne Schneeschicht zusätzlich die Lage. Der Riesaer Stadtteil Gröba kämpft mit Überschwemmungen und kleineren Stromausfällen. Die Rettungsleitstelle zählt für Riesa-Großenhain in dieser Nacht 143 Einsätze. „Bei uns ist der Teufel los“, sagte damals eine Mitarbeiterin gegenüber der SZ. Polizei, Rettungsdienste und Feuerwehr sind schon seit dem Nachmittag quasi im Dauereinsatz. Auch das THW, das die erste Notsicherung im Zeithainer Gefängnis vornimmt.

Intern wurden die Gefangenen aus den Zellen im betroffenen Teil des Hafthauses zwar längst vorsichtshalber umquartiert, „Ordnung und Sicherheit waren zu keiner Zeit gefährdet“, heißt es. Doch der riesige Trümmerberg im Hof der JVA muss dringend gesichert werden. „Es sah aus, als würde das ganze Haus C im Hof liegen“, so Nordis Schwäbe.

Und tatsächlich dauert die Reparatur noch Monate an und verschlingt etwa 130 000 Euro. Für die JVA ist Kyrill seit Bestehen die schlimmste Naturkatastrophe. Die Hochwasser erreichten die JVA nicht, und der Tornado an Pfingsten 2010 zog an Zeithain größtenteils vorbei. „Zum Glück. Man ist ein gebranntes Kind, wenn man einmal weiß, was Wind anrichten kann“, sagt der Sicherheitsbeauftragte der JVA, Benno Kretzschmar. Auch bei den in den vergangenen Wochen angesagten Winterstürmen habe er deshalb sorgenvoll in den Himmel geschaut – doch die blieben im Gegensatz zu Kyrill nur ein laues Lüftchen.

Noch heute gilt der Orkan als einer der verheerendsten der vergangenen fünf Jahrzehnte. Er forderte europaweit 47 Todesopfer, elf davon in Deutschland. Bundesweit werden die Schäden auf mindestens 2,4 Milliarden Euro geschätzt. Allein die Beseitigung der Schäden im sächsischen Staatswald kostete rund 18 Millionen Euro. Etwa 1,8 Millionen Kubikmeter Bruchholz hinterlässt Kyrill in den Wäldern des Freistaates. Mancherorts werden die Folgen Förster und Waldbesitzer noch Jahrzehnte beschäftigen. (mit dpa)