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Als die Altstadt nach Schickeria roch

Es begann vor 20 Jahren mit Schampus, Ferraris und Frauen. Doch zur Kult-Kneipe wurde das Salü in Görlitz durch Fleiß. Und Stil.

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© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Frank Seibel

Die Zeitreise beginnt mit dem ersten Schluck. Der Tresen aus hellem Holz nimmt die Reisenden in weich geschwungenen Buchten auf. Wer hier strandet, ist nie einsam. Der Wirt ist ein feiner Mann, mit Schlips, hellblauem Hemd und dunkler Weste, er schwingt die Flasche Weißbier, schnippt den Hahn fürs Pils herunter. Whisky, Rum, Cognac und Gin stehen bauchig vor der verspiegelten Rückwand, ein schönes Spiel von Bernsteinfarben. Die Decke wölbt sich und schlägt Bögen, seit Jahrhunderten. Und die Geschichten, die zwischen diesen dicken Mauern in der kleinen kopfsteinigen Gasse erzählt werden, sind zeitlos und längst vergangen zugleich.

Enrico Kasper kennt jeden Bogen dieses alten Hauses in der Schwarzen Straße. Und er kennt die einladende Ausbuchtung des Tresens aus Kirschenholz. Er kennt das abgeschabte Parkett aus runden Lärchenholzscheiben, die der Tischler damals für unkaputtbar erklärte, weil man die auch in Pferdeställen benutzt; die roten Dachziegel, die hier als Fliesen am Boden liegen. Und Hunderte und Aberhunderte Geschichten, die unter diesen Bögen, zwischen diesen Wänden und auf diesem Parkett und diesen Fliesen erzählt wurden.

Enrico Kasper war dabei, als das alles hier entstand – die erste neue Kneipe in der Altstadt, die damals noch finster, verfallen, trist war. Es ist Zeit für Erinnerungen. Kürzlich haben Stammgäste an dieser Stelle über diesen einzigartigen Ort sinniert und haben nachgezählt: Ende Dezember 1996 bis Ende Dezember 2016: Das sind zwanzig Jahre. 17 dieser zwanzig Jahre hat Enrico Kasper hautnah erlebt, genossen und durchlitten. Als Inhaber, Wirt, Sanierer.

Begonnen hatte alles schon viel früher. Deutschland Ost und Deutschland West waren gerade ein, zwei Jahre vereint, da fanden sich ein Dutzend junger Kerle mit wilden Träumen, Spleens, Muskelkraft und Partydurst zusammen und waren „die Görlitzer Szene“. Ganz bodenständige Leute heute: Handwerker, Gerichtsvollzieher, Ingenieure. Damals genossen sie die frische große Freiheit in einer Stadt, die marode war und nun wiederbelebt werden sollte. Enrico Kasper war aus Boxberg 1991 nach Görlitz gekommen, um Maschinenbau zu studieren. Im Studentenwohnheim im Hirschwinkel lernte er viele Menschen kennen, mit denen er in den kommenden Jahren eine Menge Spaß haben sollte. Die Party begann im Apollo. Dort war damals die erste Görlitzer „Szene-Kneipe“ zu Hause. Am „Tisch Drei“ traf sich die große Clique jeden Abend. „Das war unser Zuhause“, erinnert sich Enrico Kasper. Bis es eines Tages ziemlich hässlichen Ärger mit dem Wirt gab und „Tisch Drei“ komplett streikte. „Von uns ist nie wieder jemand da hingegangen“, erzählt er. Und von da an stellte sich die Frage: Wohin gehen wir jetzt?

Mitten in der damals noch unsanierten Altstadt tat sich eine neue Möglichkeit auf. In einem großen Haus in der Schwarzen Straße hatte schon damals der Glasbläser Rainer Trumpf seine Werkstatt, und das Nachbarhaus zur Brüderstraße hin gehörte einem jungen, befreundeten Architekten.

In diese alten Mauern projizierten die jungen Enthusiasten, zu denen sich auch einige der ersten „Wessis“ in Görlitz gesellten, ihre Träume. Sie mieteten sich beim Glaskünstler ein, gründeten eine eigene Firma, eröffneten gemeinsam das „Glashaus“. Das war 1995. Bald aber gab es Unstimmigkeiten, mit dem Glasbläser und mit den Behörden. Buchstäblich über Nacht schafften die Freunde, die Kasper bis dahin als ein großes „Wir“ beschreibt, das Kneipeninventar aus dem Glashaus ins Nachbargebäude – den Raum, in dem bis heute die Gäste am geschwungenen Tresen stehen, damit niemand einsam zum Wirt und auf die Whiskyflaschen im Regal schauen muss, sondern automatisch mit anderen Gästen ins Gespräch kommt. Es war kurz vor Weihnachten 1996, als das „Salü“ als ein Ort für „KochKunst und Kommunikation“ provisorisch eröffnet wurde, damals noch ohne richtige Küche. Eine zweite, offizielle Eröffnung, gab es im März 1997. Es begann eine endlose Party, erinnert sich Enrico Kasper, der in dem ganzen Gewusel des großen „Wir“ der einzige war, der alle notwendigen Verträge im Namen der GbRmbH unterschrieben und eine Gaststättenkonzession erworben hatte. Ein Profi-Animateur als Barkeeper, ein Werbeprofi als Ideengeber, viele schöne Frauen, Immobilienmakler mit Ferraris, Schampus in Strömen – es roch ein bisschen nach „Kir Royal“ und Schickeria, mitten in der noch immer etwas trostlosen Altstadt.

Zu dieser Zeit hat Enrico Kasper sein zweites Studium begonnen, Kultur und Management. 1997 ging er für ein Semester zum Studieren nach Krakau, und als er wieder daheim war, zerbrach das große „Wir“. Der heute 43-Jährige erinnert sich an Stapel von ungeöffneten Briefen in verschiedenen Farben. „Die habe ich gleich geöffnet und im Wohnzimmer unserer WG ausgebreitet und sortiert. An diesem Abend habe ich das deutsche Mahnwesen kennengelernt.“ Ein Jahr lang hatte niemand für die lustige GbRmbH ernsthaft Rechnungen bezahlt. „An diesem Abend bin ich runtergegangen, habe den Leuten den Schampus vom Tisch geräumt, das Licht angemacht und gesagt: Die Party ist vorbei.“ Geblieben war ein Schuldenberg.

Das war die zweite Geburtsstunde des Salü. Ein Wirt, ein cooler Barkeeper, echte Freunde, ein Koch – Ärmel hochkrempeln und Geld verdienen. Das ging natürlich nur ohne Miesepeterei. Aber wie man ein kleines Restaurant mit Pfiff professionell betreibt, davon hatte Kasper keine Ahnung.

Es gab Situationen, die waren zum Verzweifeln, sagt er. Aber neue Freunde kamen ins Spiel. Ralph Kunze und Birgit Beltle hatten mit dem Designer Luigi Colani viel von der Welt gesehen, hatten viel über Stil gelernt und kannten eine Reihe von guten Leuten in Deutschland. Sie bauten dem unerfahrenen Salü-Wirt Brücken zum Chef der Deutschen Barkeeper-Union Sachsen und zum Edel-Koch Eckart Witzigmann. Enrico Kasper lernte. Es war eine intensive, schnelle Schule im 5-Sterne-Zelt von Witzigmann in der Bankenmetropole Frankfurt. Den Schuldenberg vor Augen, wusste der junge Wirt, dass es mit der kleinen Kneipe allein mehr als ein Menschenleben dauern würde, die Last abzutragen. Er nutzte seine Witzigmann-Lektion und machte Catering, oft gemeinsam mit Ralph Kunze, der Zauberkünstler und Veranstaltungsmanager ist. Vor allem die großen Siemens-Feiern waren etwas Besonderes: zweimal 1000 Gäste in der alten Turbinenhalle, eine große Betriebsfeier in der Stadthalle, 10 000 Gäste beim Familientag.

Der Alltag: Jeden Monat mit dem Rucksack zu den Gläubigern und Raten abzahlen, viele kleine Portionen. Und die größeren überweisen an die Bremer Brauerei, die den jungen Salü-Gründern einst die Ausstattung finanziert hatte. Ende 2005 war es geschafft. Alle Schulden beglichen. „Da hat sogar von Beck’s jemand angerufen und sich bei mir bedankt. So konsequent und lückenlos habe noch nie ein einzelner Wirt alle Raten abgezahlt.“

Zwischenzeitlich war der stets gut gelaunte Barkeeper „Diego“ von Bord gegangen. Köche haben gewechselt. Aber die Gäste sind geblieben. Die aus den wilden Zeiten und aus den weniger wilden. Ende 2013 machte Enrico Kasper etwas Unvorstellbares: Er hörte auf. Als sich ein kleiner Sohn ankündigte, entschied er sich für die Familie und kehrte zu seinen Wurzeln zurück, als Vertriebsleiter bei einer Maschinenbaufirma im Norden des Landkreises.

Seit drei Jahren nun ist Tobias Göhlich der Mann hinterm Tresen. Ganz schön große Schuhe waren das, sagt der 33-Jährige mit dem markanten kahlen Kopf. Der studierte Betriebswirt liebt die Gastrononomie, für Enrico Kasper war Tobias Göhlich früher des Öfteren als Catering-Partner engagiert. Aber hält eine Kultkneipe einen solchen Wechsel aus? Dass Tobias Göhlich das geschafft hat, merkt man an einem ganz normalen Abend gegen 22 Uhr. Dann kommen nacheinander ein Opernsänger, ein Kulturmanager, ein Journalist an den Tresen. An einem solchen Abend sagt ein Stammgast zu einem neuen: „Das Salü ist keine Kneipe. Das Salü ist Heimat.“