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Als der Brautkleidschneider verhaftet wurde

Für Sonja und Manfred Glathe gab es zur Diamantenen Hochzeit eine 60 Jahre alte SZ – mit Überraschungsgeschichte.

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Von Carolin Barth

Das Zeitungspapier ist vergilbt und zerbrechlich. Etwas zu unachtsam umgeschlagen und die Seite würde reißen. Sonja Glathe blättert deshalb ganz behutsam in der Sächsischen Zeitung, die 60 Jahre auf dem Buckel hat und damit exakt so viele, wie die Ehe mit ihrem Mann Manfred. Die Zeitung ist ein Geschenk ihrer Familie zur Diamanten Hochzeit, zum großen Tag von Oma und Opa.

Sonja und Manfred Glathe heute. Sie lesen hier in der vergilbten SZ von 1953 – ansonsten ist jeden Morgen Lesestunde in der aktuellen SZ. Foto: Regina Berger
Sonja und Manfred Glathe heute. Sie lesen hier in der vergilbten SZ von 1953 – ansonsten ist jeden Morgen Lesestunde in der aktuellen SZ. Foto: Regina Berger

Am 24. Januar 1953 heirateten Manfred und Sonja Glathe. Es war ein Sonnabend. Auch an diesem Tag erschien für Bischofswerda wie gewohnt eine Ausgabe der Sächsischen Zeitung. Sie kostete 15 Pfennige und war nur wenige Seiten stark. An ihrem Erscheinungstag war sie für zwei aufgeregte junge Leute kurz vor der Trauung gewiss völlig uninteressant. Doch heute, 60 Jahre später, halten sie die Ausgabe von damals interessiert in den Händen.

Eine Zeit des Aufbruchs

Das vergilbte Blatt ist ein Zeitzeuge. Da sind Dinge zu lesen, die heute niemand mehr lesen wöllte. Dinge, die aber in die Zeit gehörten, in der Glathes Ehe begann. Da ist zu lesen, dass sich die Bezirksdelegierten der FDJ das erste Mal zur Konferenz in Dresden trafen, in jener Stadt, die „nach der Zerstörung durch anglo-amerikanische Bomber“ wieder „kraftvoll“ und von „pulsierendem und zukunftsfrohem Leben“ ist. Da ist zu lesen, dass Volkseigentum besser geschützt werden muss. Und der Kampfplan zur Verbesserung der Energieversorgung im Bezirk Dresden nun vorliegt. „Es war eine Zeit, in der Aufbruch herrschte“, sagt Sonja Glathe, die sich noch gut an die Nachkriegszeit erinnert. Auch sie war als junge Frau voller Hoffnungen und Träume gewesen.

Diese vergilbte Sächsische Zeitung ist für sie aber mehr als nur ein Stück Zeitgeschichte. Sie ist eng verwoben mit dem Ehepaar Glathe. Sie ist ein Stück persönlicher Geschichte der über 80-Jährigen, die längst vergessen schien.

Kühlschränke gab es nicht

Sonja und Manfred Glathe trafen sich Anfang der 1950er Jahre. Ihre Romanze begann beim Tanz, wie bei vielen anderen auch. Sie stammt aus Bischofswerda, er aus dem nahen Putzkau. Nachdem sie als junges Mädchen direkt nach der Schule in der Tuchfabrik arbeitete, war sie später im Fernamt tätig. Sie stellte mit zehn Kolleginnen tag und nachts Telefonverbindungen her. Bis heute meldet sie sich mit ihrer Telefonnummer, wenn der Apparat im Wohnzimmer schellt. Manfred war Tischler, erst bei einem Meister in Putzkau, später im Bischofswerdaer Möbelwerk. Vieles erlebt hatten sie beide, schon bevor sie sich trafen. Sie überlebten den Krieg. Sie flüchteten mit dem Handwagen, erst vor den Polen, dann vor den Russen. Zu Fuß kamen beide wieder zurück. Sonja Glathe stammte aus einer kinderreichen Familie und wuchs deshalb bei einer Pflegemutter auf. Sie blieb bei ihr, auch als ihre leibliche Mutter später mit den Geschwistern in den Westen ging.

Die Hochzeit 1953 wurde ganz bewusst im Winter gefeiert, wie Sonja Glathe erzählt. „Es gab ja damals keine Kühlschränke.“ Alma, ihre Pflegemutter, war tagelang auf den Beinen gewesen, um Lebensmittel und Fleisch für die Festgesellschaft aufzutreiben und zu horten. Weil all das nicht verfallen sollte, wurde eben bei kaltem Wetter geheiratet. Die Trauung fand in der Kirche statt, gefeiert wurde im Elternhaus am Mühlteich in Bischofswerda, wo die Eheleute noch heute leben. „Es war ein schönes Fest“, sagt Manfred Glathe.

Wenn er will, kann er sich täglich daran erinnern. Das schwarz-weiße Hochzeitsfoto hängt an der Wand. Im Rahmen steckt bis heute ein vergilbter Zeitungsschnipsel. Es ist die kleine Anzeige, mit der Glathes im Namen ihrer Eltern ihre Vermählung bekanntgaben. Die Anzeige wurde einst ausgeschnitten, die Zeitung fortgeworfen. „Beim Lesen der alten Zeitung haben wir nun genau diese Anzeige wieder entdeckt“, sagt Manfred Glathe. Er wird sie diesmal nicht ausschneiden. Die geschenkte Zeitung wird in einer stabilen Mappe gehütet.

Als für Glathes äußerst spannend erwies sich ein Beitrag auf der Lokalseite der Zeitung aus dem Jahre 1953. Er berichtet aus der Ratssitzung im Bischofswerdaer Volkshaus. „Der Rat befasste sich mit Betriebsinhabern, die ihren Verpflichtungen dem Staate gegenüber bisher mangelhaft oder überhaupt nicht nachgekommen sind“ lautet es dazu in hölzernem DDR-Amtsdeutsch. Heißt heute: Es ging um Steuerschuldner.

Nach damaliger Ratsauffassung hätte schließlich jeder Arbeiter das Recht, zu erfahren, wer da in der Kreide stünde. Heute undenkbar, scheute man 1953 nicht, die Namen der Schuldner öffentlich zu nennen. Darunter auch den von Albert Haufe. Er war Schneidermeister in Demitz-Thumitz. Er hatte Steuern und Sozialversicherungsbeiträge nicht gezahlt. Und er gehörte praktisch zur Familie. „Die Mutter meiner Pflegemutter war ebenfalls Pflegemutter, sie hatte Albert Haufe aufgezogen“, sagt sie. Als Schneidermeister war er es, der Sonja und Manfred Glathe zur Hochzeit einkleidete. „An ein weißes Hochzeitskleid war nicht zu denken. Spitze gab es nicht“, sagt Sonja Glathe, die es nicht vermisste. Albert Haufe hatte einen dunkelblauen Stoff besorgt und daraus für den Bräutigam einen Anzug und für seine Braut ein Kostüm genäht. Sonja Glathe trug eine weiße Bluse darunter und ein Myrthekränzchen im Haar.

Vom Fest direkt ins Gefängnis

Albert Haufe war zur Hochzeit geladen. Doch der Stadtratsbeschluss, Steuersünder konsequenter zu verfolgen und hart zu bestrafen, sollte das Fest stören und Alberts Leben verändern: „Er wurde auf unserer Hochzeit verhaftet“, erzählt Sonja Glathe, die jene unschöne Episode schlicht vergessen hatte. Nach seiner Festnahme verschwand Albert Haufe für einige Jahre im Gefängnis. Sonja Glathe weiß noch alles darüber, doch erst das vergilbte Blättchen ließ sie wieder erinnern.

Es erinnert auch an die schönste Zeit ihrer langen Ehe, die Zeit mit ihrem kleinen Sohn. Doch während sich eine Mutter aus Demitz vor 60 Jahren in der Zeitung beschwerte, dass es keine Windeln gäbe, half man sich bei Glathes selbst. „Wir haben Windeln und Hemdchen selbst genäht“, so Sonja Glathe, die nach ihrer Arbeit im Fernamt bei der Sozialversicherung tätig war. Manfred Glathe arbeitete bis zur Rente als Tischler und weiß genau, was damit gemeint war, wenn 1953 in der Zeitung stand, das beim Möbelbau der Rohstoff Holz sparsamer eingesetzt werden möge, um den Sozialismus weiter voranzubringen. Er baute im Bischofswerdaer Möbelwerk für den Export. Für die eigenen vier Wände zimmerte er, was gebraucht wurde, vom Einbauschrank bis zum Bilderrahmen. Seine Frau zog das Kind auf und kochte. Bis heute tut sie das jeden Mittag. Bis heute liebt er ihre Küche.

Unvergessliche Urlaube

Glathes sind stolz auf ihre 60 gemeinsamen Jahre. Sie gingen durch dick und dünn, sie meisterten Beruf und Familie und gönnten sich unvergessliche Urlaube in der Hohen Tatra. Bis heute reisen Glathes gern. Jetzt im Februar sind sie wieder unter die Sonne Gran Canarias gereist. Sie sind dankbar, dass Gesundheit und Geist mitspielen, um all das noch gemeinsam erleben zu können.