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„Alles bissel lustig nehmen“

Den Kopf voller Ideen, dazu Pinsel, Papier und Spaß am Leben – mehr braucht man nicht, um alt zu werden. Sagt Heinz Kürbis, der gerade 100 geworden ist.

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© Steffen Klameth

Von Steffen Klameth

Ein kleiner Mann öffnet die Wohnungstür in Pesterwitz. Ein sehr kleiner Mann. „Einszweiundfünzig“, sagt er. Früher sei er ja mal ein ganzes Stück größer gewesen. „Bin aber sechs Zentimeter geschrumpft.“ So ist das, wenn man 100 wird. Am Mittwoch feierte Heinz Kürbis das seltene Jubiläum.

Jeden Morgen, nach dem Frühstück, setzt sich der Mann an seinen Arbeitstisch, greift zu Stift oder Pinsel und schickt seine Gedanken auf die Reise. „Meistens fällt mir auch was ein“, sagt er. Dann beginnt er zu experimentieren. Mit Motiven, mit Techniken, mit Farben. So wie er es sein ganzes Leben lang schon getan hat. Bei anderen Menschen würde man sagen, das Malen sei ihre Leidenschaft. Bei Heinz Kürbis ist das Malen sein Leben.

Meine Eltern hatten einen kleinen Papierladen, heute sagt man „Papeteria“. Da mein Vater wieder in seinem Metallbetrieb bei der Fa. Bauch Arbeit hatte, stand nun meine Mutter hinter dem Ladentisch und verkaufte Schreibhefte, Stifte, Seiden- und Krepppapier und vieles mehr. Dieses alles war für mich kreatives Wesen eine gute Anregung. Da konnte ich ausschneiden und basteln. Es machte sich auch mein zeichnerisches Talent bemerkbar.

Heinz Kürbis kam in Dresden zur Welt, in der Radeberger Straße 50. Der Erste Weltkrieg war noch im Gange, der Thron von Kaiser Wilhelm begann zu wackeln. Es war bitterkalt, es gab nichts zum Heizen und wenig zum Essen – „eine beschissene Zeit“, schreibt er viele Jahrzehnte später in seinen persönlichen Erinnerungen. Als er zwei war, zogen seine Eltern zurück in ihre Heimatstadt Roßwein. Er verlebte eine lustige Kinderzeit. Nach der Schule begann er eine vierjährige Lehre beim Kunstmaler Paul Ahnert und besuchte die Gewerbeschule-Klasse für dekorative Malerei. Es war für ihn auch eine Lebensschule. Wenn etwas nicht so lief, wie er es wollte, tröstete er sich mit dem Satz: „Behalte stets ein fröhliches Herz und treib mit deinem Schmerz noch Scherz!“

Der Vers sollte zu seinem Leitspruch werden – selbst in den dunklen Jahren des Krieges. 1938 wurde er zum Arbeitsdienst nach Zwenkau gerufen, im Frühjahr 1939 musste er beim Luftwaffenausbildungsbataillon in Quedlinburg einrücken. Anschließend versetzte man ihn nach Graz und später nach Wiener Neustadt, wo ein guter Schriftmaler gesucht wurde. Für Kürbis ein Glücksfall – dort lernte er nicht nur eine nette Familie kennen, die ihn mit Bratkartoffeln und Topfenstrudel verwöhnte, sondern auch einen Kunstprofessor namens Vometz.

Ich erzählte ihm von mir und meinem Beruf. Meine Bitte, ihn in seinem Atelier einmal zu besuchen und ihm bei der Arbeit über die Schulter zu schauen, wurde mir erfüllt. Es entwickelte sich für mich ein kleines privates Studium. Ein ganzes Jahr konnte ich auch seine Abendkurse besuchen. Auch hielt er Unterricht in Wien an der Akademie der bildenden Künste am Schillerplatz. Hier war ich zweimal beim Aktzeichnen mit dabei. Er interessierte sich sehr für die Frauen, nicht nur auf dem Zeichenblock.

Auch der junge Kürbis war den Frauen zugetan. Während eines Kurzurlaubs lernte er im Dresdner Varietee Regina, seine Traumfrau, kennen. Sie war zwar verheiratet und Mutter eines dreijährigen Sohnes, hatte ihren Mann aber im Frankreich-Feldzug verloren.

Die beiden trafen sich mehrmals, am 3. August 1944 heirateten sie schließlich in der Pesterwitzer Kirche: „Es war der schönste Tag in meinem Leben“, sagt der Senior. Kurz darauf musste er zu seiner Einheit zurückkehren. Die Erlebnisse der folgenden Monate haben sich tief in sein Gedächtnis eingegraben.

Im Laufe des Vormittags hatte ich Görlitz erreicht. Was ich da auf dem Bahnhof erlebte, werde ich in meinem Leben nicht vergessen. Die Russen waren schon in Breslau, und unsere Bevölkerung musste fliehen. Frauen mit ihren Kindern und Säuglingen hineingepresst in den überfüllten Zug, sitzend oder stehend auf ihrem notdürftigen Gepäck. Mit Tränen in den Augen suchten sie nach einem Platz, wo sie in Ruhe ihren Säugling stillen konnten, dazwischen die vollkommen erschöpften, müden und weinenden Kinder. Dies alles übertönt von den Befehlen und Anweisungen der Offiziere und Hilfskräfte.

Die Liebe und die Ungewissheit, wie es der Familie daheim ergehen mochte, veranlassten den Soldaten zur Fahnenflucht. Wie durch ein Wunder entkam er der Feldpolizei und der Deportation nach Russland. Manchmal kann er sein Glück selbst heute nicht ganz begreifen: „Das Schicksal war mir gnädig.“ Um an Lebensmittelmarken zu kommen, machte er sich mit seiner Frau selbstständig – „eine Art kunstgewerbliche Werkstatt“, wie er es nennt. Doch die bürokratischen Hürden wurden immer größer, die Einführung der DDR-Mark bedeutete für die kleine Firma letztlich das Aus. Bei Puders Freitaler Marionettenbühne fand Kürbis eine Anstellung als Kulissenmaler.

Es ist doch erstaunlich, wie wir Menschen in so einer von Hunger geplagten Zeit zur Normalität zurückgefunden haben. Ich bemühte mich, die ehemalige Laienspielgruppe von Wurgwitz wieder zum Leben zu erwecken. Die Begeisterung war groß, und alle machten mit. Ich malte die Kulissen, übernahm die Regie und spielte auch selbst mit. Aber immer nur die humoristischen Rollen.

Fragt man Heinz Kürbis heute nach dem Rezept für ein langes Leben, muss er nicht lange überlegen: „Alles bissel lustig nehmen.“ Sein Optimismus, sagt er, sei sein Antrieb. Dabei hätte er mehr als einmal Grund gehabt, sein Leben zu verfluchen. Was er auch anpackte: Es war nie lange von Dauer. Die Laienspielgruppe wollte nicht so, wie es die neue Staatsmacht wollte. Sein privater Malerbetrieb musste schließen, als ein Großbetrieb ihm die Aufträge entzog.

In der Dresdner Flugzeugwerft erlebte er mit, wie das erste DDR-Passagierflugzeug nicht von seinem Probeflug zurückkehrte. Schließlich trat Kürbis der PGH „Die Maler“ in Freital bei. Natürlich unter einer Bedingung: Er wollte unbedingt eine Schrift- und Werbeabteilung aufbauen. Gesagt, getan: Er malte Werbung für Kinos, Schriften auf Fassaden, Transparente für den 1. Mai – „wir hatten voll zu tun.“

Bis ihm wieder das Glück hold war. Das DDR-Fernsehen produzierte seine Sendungen zunehmend auch in Dresden, hatte aber nicht genügend Dekorateure und Bühnenbildner. „Durch irgendeine Fürsprache“ wurde Heinz Kürbis engagiert – den Job übte er dann bis zur Rente 1983 aus. Unterhaltungssendungen wie „Herzklopfen kostenlos“ und „Mach mit, mach’s nach, mach’s besser“ sowie Serien wie die „Stülpner-Legende“ und „Zimmer mit Ausblick“ wurden mit Dekorationen ausstaffiert, an denen Kürbis mitwirkte.

Einmal waren wir in der Stadthalle Görlitz, um eine große Operettenschau zu produzieren. Da sich die Sendezeit und Aufzeichnung in Berlin-Adlershof stark verzögerten, standen wir alle sinnlos herum. Die Kollegen vom Ton ließen ein bisschen Tanzmusik erklingen. Den hübschen Ballettmädels mit ihren kurzen Röckchen zuckte es in den Beinen, und sie fingen an, aus dem Stegreif zu tanzen. Ich warf den Pinsel zur Seite. Wie ein männlicher Engel schwebte ich graziös in meinem bunt befleckten Malerkittel zwischen den weiblichen Körpern. Ich bekam die Ballerina zu fassen und tanzte mit ihr ein Solo. So klein ich auch bin, aber ich war wieder einmal der Größte.“

Lust und Lebenslust lagen bei Heinz Kürbis immer dicht beisammen. Zum 80. Geburtstag überraschte ihn die Familie mit einer Striptease-Tänzerin. Noch im hohen Alter zeichnet er gern junge, barbusige Frauen und textet frivole Verse, etwa auf Tischkärtchen für Familienfeiern. An den Wänden seiner Wohnung hängen auch einige Akte; auf manchen meint man, seine Frau Traudel wiederzuerkennen.

Der schwerste Schicksalsschlag für das Paar war der frühe Tod ihres gemeinsamen Sohnes Horst; er erlag mit 26 einer schweren Krankheit. Das Ereignis band beide nur noch enger zusammen, gemeinsam feierten sie noch die Gnadenhochzeit. Wenig später, im Jahre 2015, verstarb Traudel Kürbis – eine Erlösung, wie Heinz Kürbis sagt. Seitdem ist es noch stiller ringsherum geworden. „Alle sterben, nur ich bin noch da.“ Einsam fühle er sich aber beileibe nicht. Sein Stiefsohn, der für ihn immer wie ein leibliches Kind war, begleitet ihn zum Einkaufen und holt ihn am Wochenende zum Mittagessen ab. Heinz Kürbis kocht aber auch noch selbst, am liebsten Bratkartoffeln und Sülze oder Kartoffeln und Quark. Und manchmal legt er einen Obsttag ein: „Du darfst ja nicht verfetten.“

Schließlich will Heinz Kürbis nicht nur 100 werden, sondern noch ein bisschen älter. Im Herbst begeht Pesterwitz seine 950-Jahr-Feier. Das Geschenk des Künstlers ist schon fertig: ein großformatiges Gemälde, das die Geschichte des Dorfes von der Ritterzeit bis zur Gegenwart erzählt. Niemand würde sich wundern, wenn ihm bis zum Jubiläum noch mehr einfällt.

Die Episoden sind Auszüge aus der Autobiografie, die Heinz Kürbis anlässlich seines 96. Geburtstages verfasste.