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Allerweltsbaum?

Die Fichte ist Baum des Jahres – gab es keinen interessanteren? Nein, sagt ein Tharandter Experte.

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© Claudia Hübschmann

Von Udo Lemke und Tobias Winzer

Tharandt. Die Nadeln der Fichten werden in unserer Region sieben Jahre alt. Andreas Roloff nimmt einen Zweig der schönen, hohen Fichte im Triebischtal und zählt die Abschnitte, die hier pro Jahr gewachsen sind. Als er bei der sieben ankommt, hören die Nadeln auf. Es ist nicht das einzige Geheimnis, das der Professor für Forstbotanik an der Technischen Universität Dresden von der Fichte kennt. Ein anderes ruht tief in der Erde. „Die feinen Wurzeln der Fichte verwachsen mit denen eines Nachbarbaums, später gibt es armdicke Verbindungen untereinander. Das kann man in vielen Fichtenwäldern im Tharandter Wald an überwallenden Stubben abgesägter Fichten sehen, die ihre Kohlenhydrate fürs weitere Wachstum von den Nachbarbäumen erhalten.“

Diese Wurzelverwachsungen, die sich über ganze Fichtenwälder ausbreiten, bieten den einzelnen Bäumen gleich mehrere Vorteile. So erhöht sich die Standfestigkeit jeder einzelnen Fichte, weil sie mit einer oder mehreren anderen einen viel größeren Wurzelteller ausbildet als allein. Und weil die Bäume auf diesem Weg auch Informationen austauschen, spricht man ja vom Wood Wide Web. „Wird ein Baum von Käfern befallen, fangen die Zweige an, Abwehrstoffe zu produzieren, und das wird auch dem Nachbarbaum mitgeteilt.“ Zu diesem großen Vorteil gesellt sich allerdings ein großer Nachteil, denn über das Netz der Wurzelverwachsungen können auch Pilzkrankheiten verbreitet werden.

Eigentlich nur im Gebirge zu Hause

Heute ist die Fichte die häufigste Forstbaumart. „Die damit verbundenen Probleme haben ihren Ruf erheblich ruiniert, daran ist aber die Fichte unschuldig.“ Der Anbau von gleichaltrigen Reinbeständen – also in Monokultur – führt dazu, dass diese besonders anfällig gegen Windwurf sind, trotz der Wurzelverwachsungen, und dass sie besonders anfällig gegen das massenhafte Auftreten von Schadinsekten wie dem Borkenkäfer sind. Können diese sich doch in solch einer Monokultur rasant ausbreiten. Dabei sind die ausgedehnten Fichtenwälder im Flachland etwas, das es ohne den Menschen nicht geben würde. Denn Picea abies, wie der lateinische Artname der Fichte lautet, ist eigentlich ein Baum der Mittel- und Hochgebirge. Ins Tiefland ist sie nur so massenhaft gekommen, weil sie wegen ihres geraden und relativ schnellen Wuchses zum „Brotbaum der deutschen Forstwirtschaft“ geworden ist – Fichten werden im Alter von 70 bis 100 Jahren geerntet. Und weil das relativ leichte, feste und elastische Holz gut als Bau- und Konstruktionsholz und zum Möbelbau geeignet ist, ist es begehrt.

Allerdings kann Andreas Roloff, der in Tharandt an der TU Dresden, Fachrichtung Forstwissenschaften arbeitet, Vorkommen von natürlichen Tieflandfichten in unserer Region nennen. Sie befinden sich zum Beispiel im Tharandter Wald nahe der Triebisch. „Dort sind die Böden so kalt, da gibt es noch im Mai Bodenfröste, dort befinden sich Kaltluftschneisen – da fühlen sich die Fichten wohl, als ständen sie in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet im Gebirge.

Andreas Roloff war bis 2015 Vorsitzender des Kuratoriums „Baum des Jahres“. In dieser Eigenschaft hat er Gewächse wie den Berg-Ahorn, die Elsbeere oder den Wild-Apfel zu Bäumen des Jahres mitgekürt. Aber die Fichte? Diesen Allerweltsbaum? Rein zahlenmäßig wächst der doch wie Unkraut im Wald. Mit solchen Vorurteilen ist Vorsicht geboten. Das massenhafte Vorkommen ist kein Garant für die ungefährdete Existenz eines Lebewesens. Ältere Leser werden sich erinnern, dass sie als Kind ganzen Schwärmen von Schmetterlingen hinterhergejagt sind. Und heute? 2002 wurde der Hausspatz zum Vogel des Jahres gekürt. Zwar soll es weltweit noch 500 Millionen Individuen geben, aber „nach deutlichen Bestandsrückgängen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem im Westen Mitteleuropas wurde die Art in die Vorwarnliste bedrohter Arten aufgenommen“. Und erinnern Sie sich, dass noch vor zehn Jahren jede Tankstelle ein Sprühgerät an der Waschanlage stehen hatte, um die Insekten von der Windschutzscheibe zu lösen. Heute kann man kilometerweit fahren, ohne einen einzigen Fleck von einem toten Käfer auf der Windschutzscheibe zu haben. Was hat das alles mit der Fichte zu tun? „Die Fichte gilt als diejenige Baumart, die das schlechteste Anpassungspotenzial an die kommenden klimatischen Veränderungen unter den Waldbäumen hat“, schreibt das Kuratorium „Baum des Jahres“. Sie werde besonders unter hohen Temperaturen und Trockenheit zu leiden haben. Eine Prognose für Baden-Württemberg sagt, dass 2050 nur noch etwa fünf Prozent der Fichtenbestände auf geeigneten Standorten stehen werden. „Selbst in den Hochlagen des Schwarzwaldes, also dort, wo die Fichte von Natur aus zu Hause ist, wird es nur noch suboptimale Klimaverhältnisse für sie geben.“ Warum soll es im Erzgebirge besser sein?

Seitenäste als Wetteransager

Die Fichte hat keine spektakuläre Blüte, keine spektakuläre Blattfärbung, sie ist immer grün. „Wenn man sich aber mit ihr beschäftigt, dann findet man viele interessante Dinge“, so Andreas Roloff. Er erklärt, dass es zum Beispiel ein Fichtenbarometer gibt. Wenn man immer die selben Seitenäste einer Fichte beobachtet, so wird man sehen, dass sie sich heben und damit feuchtes Wetter ankündigen und dass sie sich senken und trockenes vorhersagen. „Bei Windstärke 4 hören sie ein helles gleichmäßiges Rauschen in der Krone.“ Und dann weiß Professor Roloff noch etwas: „In der Mythologie steht die immergrüne Fichte als Symbol für die Unendlichkeit des Lebens. Maibäume waren früher häufig Fichten, die aus dem Wald geholt und als Schutzbaum aufgestellt wurden.“