Christine-Felice Röhrs
Kabul. Die Bergkuppe liegt still im Winterwind, Männer in schweren Splitterschutzwesten und mit Visieren vor dem Gesicht knien im Matsch und schieben vorsichtig, zentimeterweise, Erde zur Seite. Sie wühlen in den Eingeweiden vergangener Kriege. Schneeflocken waschen vor ihren Augen kleine, gerundete Metallrücken frei - russische, chinesische, iranische Minen liegen hier, eingekauft für afghanische Kriege. Innerhalb von nur zwei Stunden finden die Räumer drei weitere, nur Zentimeter unter lockerem Geröll. Erst vor sechs Monaten ist ein Junge namens Hassib hier auf eine Mine getreten. Sie hat ihm den Fuß abgerissen. Hassib hatte Hasen gejagt.
Dieser Berg nicht weit von Kabul war bis vor nicht allzulanger Zeit eine Frontlinie, von gleich mehreren Kriegen - und wer weiß, sagen die Räumer, ob er nicht bald wieder Front wird. Sowjetische Soldaten, die 1979 in Afghanistan einmarschiert waren, haben hier gegen die Freiheitskämpfer der Mudschaheddin gekämpft, später die Taliban gegen ihre Gegner von der Nordallianz. Dröhnende Explosionen haben diesen Berg erschüttert, aufspritzendes Geröll. Am Boden blutende Kämpfer.
Hoch gefährliches Kriegserbe
Er könnte überall liegen in Afghanistan, wo nun ein neuer Krieg entbrannt ist, der zu Tausenden neue Sprengsätze gebiert: der Krieg der Taliban gegen die afghanische Regierung.
Afghanistan gilt als eines der am schwersten verminten Länder der Welt. 715 000 Antipersonen-Minen haben Minenräumer seit 1989 bisher gefunden und zerstört. Dazu kamen 30 000 Panzer-Minen und fast zwei Millionen sogenannte nicht detonierte Kampfmittel, also Munition aller Größen und Sorten, Handgranaten, Mörser, Raketen. Was hochging, hat Zehntausende zu Krüppeln gemacht. Männer an Krücken, Bettler ohne Beine, Kinder mit Stümpfen hatten jahrzehntelang das öffentliche Straßenbild in Afghanistan bestimmt.
Nun wiederholt sich die Geschichte. Nun gibt es wieder viele Menschen ohne Füße, Unterschenkel, Beine, Hände, Arme. Denn der neue Krieg verseucht quadratkilometerweise Gegenden, die teilweise schon geräumt worden waren, erneut mit Minen und anderen explosiven Überbleibseln von Gefechten. 133 der 407 Bezirke des Landes seien nun wieder umkämpft, hieß es gerade am Mittwoch in einem neuen Bericht einer US-Behörde. Rund neun Millionen Menschen sollen in diesen Bezirken leben. Es wäre fast ein Drittel aller Afghanen.
In der Trauma-Klinik der italienischen NGO Emergency in der hart umkämpften Provinz Helmand zum Beispiel, sagt Direktor Dejan Panic, sind mittlerweile die meisten Patienten wieder Minenopfer: Soldaten, Bauern, Hausfrauen, Schüler. Die Zahl der Opfer von nicht detonierten Kampfmitteln ist auch stark gestiegen: um 67 Prozent bis September 2016 gegenüber 2015, sagen die UN. Die meisten Opfer waren Kinder.
Eigentlich hatte Afghanistan 2013 minenfrei sein sollen. Aber dann kamen die Taliban wieder. Drei Viertel der alten Minenfelder hatten die Räumer geschafft, als der neue Krieg aufflammte. Übrig sind nun immer noch 600 Quadratkilometer „Gefahrenzone“. Viele liegen in Kampfgebieten, was das Räumen schwer macht.
Es wurde also ein neues Datum gesetzt - nun soll Afghanistan 2023 minenfrei sein. „Aber das ist auch nicht mehr sicher“, sagt der Leiter des afghanischen Direktorats für die Koordinierung der Minenräumung (DMAC), Mohammed Schafik Jusufi.
Zum einen geht den Minenräumern das Geld aus. In den vergangenen Jahren, sagt Jusufi, hätten die Minenräumer zwei Drittel ihres Budgets verloren. Das Geld der internationalen Geber ging an andere Krisenherde, den Irak, Syrien. Die Regierung hat nun die Minenräumung in eine nationale Prioritätenliste aufgenommen, und die Räumer hoffen, dass das die Geber ermuntert, wieder mehr zu spenden.
Es müsste allerdings erheblich mehr sein. Denn das bisherige Budget hat die neuen Belastungen ja noch gar nicht einkalkuliert. Viele dieser Sprengsätze haben die Taliban gelegt.
Die legen allerdings selten „professionelle“ Minen. Sie bauen sie selber, weshalb sie auch improvisierte Sprengsätze genannt werden - „improvised explosive devices“, kurz IEDs. Aber IEDs reißen Arme oder Beine ab wie klassische Minen. Einige werden gezielt gezündet, mit Handys oder Garagentüröffnern. Viele andere, wie die sogenannten Druckplatten-IEDs, werden einfach an Straßen vergraben und töten dann willkürlich, wer auch immer auf sie tritt oder fährt.
Druckplatten-IEDs gehören, trotz erheblicher Proteste der UN, immer noch zu den drei häufigsten Todesursachen von Zivilisten. IEDs zu legen, sei mörderisch und könnte sehr wohl ein Kriegsverbrechen sein, schimpft der Leiter der politischen UN-Mission, Tadamichi Yamamoto.
Angesichts wöchentlich neuer Opferberichte hatte Ende 2016 der Nationale Sicherheitsrat von Afghanistan das Direktorat für die Minenräumung gebeten, sich diese neue Bedrohung näher anzusehen. In dessen Bericht heißt es nun, dass in den vergangenen Jahren mehr als 420 Quadratkilometer afghanischer Erde neu mit Explosivstoffen verseucht worden seien, vor allem mit IEDs.
Besonders viele vermuten die Experten in den Provinzen Helmand und Farah im Süden und Westen sowie in Kundus und Baghlan im Norden. Dort gab es in den vergangenen Monaten die schwersten Kämpfe.
„Das ist aber nur ein erster Überblick“, sagt DMAC-Direktor Jusufi. „Wir haben bisher nur auf 22 Provinzen geschaut. Und nur auf die Gegenden, zu denen wir Zugang hatten.“ (dpa)