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Absturz über Riesa

Fritz Koal stürzt 1945 mit seiner Messerschmitt über dem Getreidesilo ab – und überlebt wie durch ein Wunder.

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Von Jens Ostrowski, Sebastian Fink und Peter Becker

Es ist dieser Moment, in dem ein Pilot nicht weiß, ob er für ihn gut ausgehen wird: Als die Messerschmitt von Fritz Koal bei einer Kollision vom Propeller einer befreundeten Maschine in zwei Hälften zersägt wird, befindet sich der 20-Jährige einige hundert Meter über der Erdoberfläche – und er stürzt unaufhaltsam mit seiner Maschine dem Riesaer Getreidesilo entgegen.

Fritz Koal im Jahre 2013 und als junger Flieger in den 40er Jahren. Fotos: Peter Becker/Privat
Fritz Koal im Jahre 2013 und als junger Flieger in den 40er Jahren. Fotos: Peter Becker/Privat © Bomenius
Fritz Koal im Jahre 2013 und als junger Flieger in den 40er Jahren. Fotos: Peter Becker/Privat
Fritz Koal im Jahre 2013 und als junger Flieger in den 40er Jahren. Fotos: Peter Becker/Privat © Peter Becker

Wenige Stunde zuvor albert Fritz Koal mit seinen Fliegerkameraden auf dem Flugplatz Canitz noch ausgelassen herum. Dieser 12. November 1944 ist ein trüber Sonntag. Die jungen Piloten rechnen wegen des schlechten Wetters nicht mit einem Einsatz, haben sich ein paar Freundinnen eingeladen, denen sie stolz ihre Flugzeuge präsentieren wollen.

Koal und seine Kameraden gehören zur Staffel II des Jagdgeschwaders 27 der Luftwaffe. „Von hier aus sollten wir die Leuna Werke und andere wichtige Industrieanlagen schützen“, erinnert sich Koal. Und: „Canitz war ein ganz einfacher Flugplatz, ohne Hallen und Unterkünfte, besaß nur eine unbefestigte Start- und Landefläche.“ Die Flugzeugführer leben bei Privatleuten im Ort. „Mit den Bewohnern hatten wir schnell einen guten Kontakt hergestellt, sie waren stolz auf ihre Flieger und nahmen uns mit Herzlichkeit auf. Und hübsche Mädchen gab es in Canitz auch“, berichtet Fritz Koal.

Doch die ausgelassene Stimmung an diesem Sonntagnachmittag wird plötzlich durch schrillen Alarm gestört. Die Piloten werden in Sitzbereitschaft versetzt, müssen sofort ihr Flugzeug betreten. Feindliche Maschinen haben die Reichsgrenze überflogen. Als sie kurze Zeit später wieder abdrehen, gibt es für Koals II. Staffel zwar Entwarnung, die Bereitschaft aber wird in einen Übungseinsatz umgewandelt. Insgesamt zwölf Messerschmitts steigen in den Riesaer Himmel auf. „Nach dem geplanten Übungsprogramm wollten wir in geschlossener Staffelformation unseren Flugplatz im Tiefflug überfliegen, dann hochziehen, auflösen und wegen der Enge des Platzes einzeln hintereinander landen“, erinnert sich Fritz Koal.

Doch beim Positionswechsel gibt es Komplikationen. Als Koals Fliegerkumpel Hermann dessen Maschine unterfliegen will, kommt es über der Riesaer Innenstadt zur Kollision. Der Propeller durchsägt das Flugzeug kurz hinter dem Cockpit, es zerbricht in zwei Teile. „Ich raste steuerlos mit dem Vorderteil der nahen Erde entgegen. Schnell warf ich das Kabinendach ab und sprang heraus. Wegen meiner geringen Absprunghöhe zog ich sofort den Auslösegriff des Fallschirmes und im Moment der Öffnung war ich schon auf Höhe der oberen Kante des Getreidesilos. An dessen Seitenwand glitt ich hinunter und schlug unten mit dem Hinterkopf auf das Anschlussgleis, genau neben der Laderampe auf. Dabei zog ich mir stark blutende Kopfverletzungen zu. Das alles hatte sich in Bruchteilen von Sekunden abgespielt. Als ich aus meiner kurzen Ohnmacht erwachte, sah ich, dass das komplette Heckteil meiner Me nur etwa 15 Meter von mir entfernt lag. Das Vorderteil schlug in rund 400 Metern Luftlinie entfernt inmitten eines Sportplatzes auf, explodierte aber nicht.“

Das Flugzeug von Hermann, der sich offenbar auch Dank seines Fallschirms retten kann, stürzt mitten ins Riesaer Rohrwerk. Dabei wird eine Rohrstraße, die Strangpresse und die elektrische Unterstation getroffen sowie durch einen beschädigten Kabelkanal ein Brand ausgelöst. Der Schaden beläuft sich auf 40 000 bis 50 000 Reichsmark. Doch die Vorbereitungen im Werk auf eventuelle Luftangriffe greifen: Die Produktion wird damals so schnell umgelagert, dass sie bereits am nächsten Tag zumindest teilweise wieder anlaufen kann. Die Kosten deckt die Haftpflichtversicherung der Luftwaffe. Ob damals Menschen zu Schaden kommen, ist nicht überliefert. Die Mitteldeutsche Stahlwerke AG stellt jedenfalls nach diesem Unfall bei den zuständigen Behörden einen Antrag, den Luftraum über den Werken zum Sperrgebiet zu erklären.

„Es ist unglaublich, was ich für ein Glück hatte“, sagt Fritz Koal im Nachhinein. Schnell wird er ins Krankenrevier gefahren, dort muss seine Kopfwunde mit genäht und geklammert werden. Als er eine Woche später von seinem Genesungsurlaub zurückkehrt, hat seine Staffel den Fliegerhorst Canitz bereits wieder verlassen. „Ich bekam den Befehl, zum Fliegerhorst Hopsten bei Rheine nachzukommen.“ Koals Truppe wird an der Westfront eingesetzt.

Am 1. Weihnachtsfeiertag stürzt Koal wieder ab. Diesmal trifft ihn über Brüssel die Bordwaffe einer amerikanischen P-51 Mustang. Später stellt sich heraus, das Fritz Koal vom amerikanischen Fliegerass Georg Preddy beschossen worden war. Preddy ist 1944 gefeierter Airforce-Pilot. Er steht an dritter Stelle der Piloten mit den meisten Feindabschüssen. Und der junge Koal ist sein letztes Ziel. Denn bei der Rückkehr von diesem Luftkampf wird Preddy versehentlich von der eigenen Flak abgeschossen und stirbt den Fliegertod. Fritz Koal hat mehr Glück. Er überlebt nicht nur erneut einen Absturz, er überlebt auch den Zweiten Weltkrieg.