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Abseits und doch mittendrin

Jörg Schneider ist mit seinem Schreibwarengeschäft von Görlitz nach Kodersdorf gezogen – und hat sich neu erfunden.

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© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Frank Seibel

An den Wurstgeruch von einst erinnern sich nur die alten Kodersdorfer. Über 50 Jahre ist es her, seit der Fleischer in der großen Kurve geschlossen hat. Jetzt zieht allenfalls Kaffeeduft aus dem Hinterstübchen in die Verkaufsräume. Wo einst Wurst und Schinken lagen, stehen nun hüfthohe Türme aus Kunststoff in Grau und Schwarz. In einem Regal an der Wand liegen dicht gedrängt Stifte, Lineale, Rechnungsblöcke, Schulhefte und Pakete mit Kopierpapier.

Vor drei Jahren noch hatten Stift und Co. eine große Bühne. 120 Quadratmeter im Görlitzer City-Center, beinahe beste Lage in der Innenstadt. Schicker Teppich, helles Licht, fröhliche Farben. Rechnet man die Anfänge mit einem Geschäft auf der Salomonstraße – hinterm heutigen „Café Central“ – dazu, waren Schneiders Schreibwaren fast ein Vierteljahrhundert lang im Zentrum von Görlitz.

Hier dachte mancher an den Untergang der Firma, als die Betreiberfamilie den Laden schloss und einen aus Görlitzer Sicht vollkommen unglaublichen Zettel hinterließ: Wir ziehen um nach Kodersdorf. Das musste das Aus sein ...

Aber Jörg Schneider hatte sich das gut überlegt. Während der Zeit im City-Center hatte sich viel verändert. Das Kaufhaus nebenan musste im August 2009 schließen, und damit fiel ein wichtiger Kundenmagnet im Stadtzentrum weg, von dem auch das Schreibwarengeschäft profitiert hatte. Außerdem spürten Schneiders die Konkurrenz des Internets. Besonders zum Schulanfang spürte Jörg Schneider, wie die Kunden zunehmend schwierig wurden. „Sie kamen mit ihren Kindern und haben Ranzen ausprobiert. Wir haben sie beraten – und dann haben sie übers Internet bestellt“, erzählt der 50-Jährige.

Dabei hatten sie die Zeit nicht einmal verschlafen. Seit über zehn Jahren ist die „Schneider OHG“ im Internet aktiv und betreibt in Kooperation mit ihrem Großhändler einen Online-Shop. Aber Schnäppchenjäger suchen woanders.

Der Verkauf von modernen Druckern und Kopierern und der Service dafür wurde für die Firma immer wichtiger. Als der Vertrag im City-Center auslief, nutzten Jörg Schneider und sein Vater die Chance, sich neu zu erfinden. Die Erinnerung an die familiären Wurzeln halfen bei der Neuorientierung. Schneiders leben zwar seit Jahrzehnten in Görlitz, stammen aber ursprünglich aus dem Kodersdorfer Ortsteil Rengersdorf, der den heutigen alten Ortskern markiert. Jörg Schneiders Großvater Helmut hatte in der großen Kurve an der Straße der Einheit die Fleischerei betrieben – von 1933 bis 1961. Diesen Ort wählte Jörg Schneider nun als neuen Firmensitz. Das Team verkleinerten sie radikal: Von vier Verkäuferinnen blieb nur eine Stelle übrig. Der wirtschaftliche Druck ist somit viel kleiner als zuvor – und der Erfolg sogar größer; das ist das Erstaunliche.

Denn Kodersdorf ist nicht am Rande, sondern im Zentrum: „Von hier aus bin ich schnell in Niesky, in Görlitz und in Bautzen“, sagt Jörg Schneider. Denn noch etwas hat sich im Laufe der Jahre verschoben. Er lebt nicht mehr nur vom Verkauf von Schreibwaren und Büroartikeln, sondern immer mehr von Druckern und Kopierern, die er verkauft oder mit Leasing-Verträgen vergibt. Und daran hängt dann meist ein Service-Vertrag.

Für diesen Geschäftszweig liegt das Görlitzer City-Center nicht zentraler als Kodersdorf. Schneiders profitieren hier unter anderem vom wachsenden Industrie- und Gewerbegebiet. Dass sich der Felgenhersteller Borbet hier in diesem Jahr ansiedeln würde, deutete sich damals schon schwach am Horizont an. Jörg Schneider ahnte, dass sich in dem kleinen Ort vor den Toren der Stadt neue Firmen ansiedeln würden – und jedes Unternehmen braucht heute moderne Drucker und Kopierer.

Aber sogar das Geschäft mit alltäglichen Schreibwaren funktioniert in Kodersdorf mit seinen rund 2 500 Einwohnern. Eine Oberschule, ein Kindergarten, das ist eine Basis fürs Alltagsgeschäft. Zu Schulbeginn reisen Schneiders in die Schulen und packen Bücher und Hefte ein – ein Service, der immer noch sehr gefragt ist.

Und Jörg Schneider ist die meiste Zeit unterwegs und bei Kunden: Drucker reparieren und warten, neue Geräte anliefern, alte abholen. Früher stand er immer noch zusätzlich im Laden, der an sechs Tagen in der Woche geöffnet haben musste, wochentags immer bis 19 Uhr, sonnabends bis 16 Uhr. Denn in einem Center sind die Öffnungszeiten streng geregelt. Somit ist der Orts- und Strategiewechsel eine mehrfache Befreiung für Jörg Schneider: weniger Druck, mehr Zeit für Familie und Hobbys.

Das ist ein Beitrag aus unserer Reihe Kauf lokal. Hier finden Sie weitere Informationen und Beiträge dazu.