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Abschied mit lautem Knall

Der letzte Teil der Firma Fahrzeugsitze wurde abgerissen. Die SZ war dabei und sprach mit ehemaligen Mitarbeitern.

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© Dirk Zschiedrich

Von Katharina Klemm

Bad Schandau. Es ertönt ein langes Sirenensignal. Alle schauen gespannt. Gleich passiert es. Dann ertönt die Sirene zweimal kurz, es knallt und schon fällt der Schornstein auf dem ehemaligen Gelände der Fahrzeugsitze Bad Schandau. Ein letztes Mal steigt Qualm aus ihm empor. Dann liegt er in Trümmern am Boden.

Einen kurzen Augenblick noch stand der Schornstein aufrecht.
Einen kurzen Augenblick noch stand der Schornstein aufrecht. © Dirk Zschiedrich
Dann fiel er schon dem Erdboden entgegen, bis er beim Aufprall zerbarst.
Dann fiel er schon dem Erdboden entgegen, bis er beim Aufprall zerbarst. © Dirk Zschiedrich

Um dieses Spektakel mitzuerleben, waren am Donnerstagmittag viele Schandauer gekommen. Der danebenliegende Lidl-Parkplatz war voll mit den Autos von Schaulustigen. Wer einkaufen wollte, fand nur schwer einen Platz. Auch entlang der Bundesstraße B 172 standen viele Menschen und warteten darauf, dass der Schornstein fällt. Viele hatten eine Kamera dabei oder warteten mit dem Handy in der Hand auf den nur Sekunden dauernden Fall. Schon eine halbe Stunde zuvor spritzte das Sprengteam Wasser auf den Bereich, auf den die Esse fallen sollte – so beugten sie einer großen Staubwolke vor.

Lidl will mehr Verkaufsfläche

Auch einige ehemalige Mitarbeiter waren gekommen. Sie arbeiteten in dem Unternehmen, als es noch der Volkseigene Betrieb (VEB) Fahrzeugsitze war. Damals wurden hier Sitze und Liegen für Schlafwagen hergestellt. Sie wurden an Waggonbauzulieferer in Görlitz und Bautzen geliefert und hauptsächlich in sowjetische Weitstrecken-Waggons eingebaut, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter. Einer der Schaulustigen ist Christian Bucher. Er hat sich einen Platz direkt am Bauzaun auf dem Lidl-Parkplatz gesichert. Auf einem kleinen Klappstuhl wartet er auf das Unvermeidbare. „Da geht es hin, das letzte Bisschen meines Eigentums“, sagt er scherzhaft mit Blick auf das damalige Volkseigentum. Christian Bucher war einst Haupttechnologe im Betrieb und verantwortlich für die gesamte Technologie, erzählt er. Er gab die Arbeitsschritte vor und sagte, wie alles verarbeitet werden sollte. Den Abriss seines ehemaligen Betriebes hat Bucher von Anfang an mit verfolgt. „Zuletzt war das Gelände für die Stadt nur noch eine Schande“, sagt er. „In unseren damaligen Büros wuchsen Bäume und Gras.“

Das Areal an der Lindenallee war vom Elbe-Hochwasser 2002 schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Danach zog die Firma Fahrzeugsitze in den Gewerbepark Neustadt und gab den Bad Schandauer Standort auf. Er verfiel nach und nach. 2006 vernichtete dann ein Großbrand eine der ehemaligen Produktionshallen. Die Firma suchte nach Käufern, doch lange fand sich niemand. Nun hat der Discounter-Konzern Lidl die Brache gekauft. Dort soll neben der jetzigen Filiale ein Neubau mit einer größeren Verkaufsfläche von rund 1 500 Quadratmetern entstehen. In das alte Lidl-Gebäude wird wohl ein Drogeriemarkt einziehen.

Seit diesem Jahr rollen die Abrissbagger auf dem Fahrzeugsitze-Gelände. Nachdem die umliegenden Gebäude des Standorts bereits abgetragen waren, ragte nur noch der Schornstein als letzter Zeuge des ehemaligen Industriebetriebs in den Himmel. Er gehörte zum Heizhaus. „Früher wurde ja noch mit Kohle geheizt“, sagt Christian Bucher. In den letzten Jahren habe die Esse allerdings nur noch als Träger für Antennen gedient. Christian Bucher findet es richtig, dass jetzt etwas Neues entsteht. Die alten Hallen wären seiner Meinung nach sowieso ungeeignet für die Arbeit mit neuer Technik gewesen, sagt er. Auch seine Frau Ingrid ist vor Ort, um zu sehen, wie der Schornstein fällt. Sie arbeitete als Einkäuferin in der Materialversorgung des VEB. Sie hat gern im Betrieb gearbeitet, so Ingrid Bucher. Wie sie den Abriss sieht? „Es nützt ja alles nichts“, sagt sie. „Wir wollen ja alle, dass die Ruine wegkommt.“

Industriegeschichte wird zerstört

Als das Ehepaar gehen will, treffen die beiden noch auf Wilfried Schwesinger. Auch er arbeitete damals im Betrieb, war Leiter des Lagers. Um seinen Hals hängt ein Fernglas, mit dem er die Sprengung ganz genau verfolgen konnte. Er findet es ebenfalls gut, dass nun wieder ein Schandfleck in Bad Schandau beseitigt ist. Aber vor dem Hochwasser hätten hier viele Leute einen Arbeitsplatz gehabt, gibt er zu Bedenken. Dass diese Stellen weggefallen seien, sei schade gewesen. Natürlich ist er auch ein bisschen traurig, dass das Gelände und nun auch der Schornstein dem Abriss zum Opfer gefallen sind. Denn für Wilfried Schwesinger geht damit auch ein Teil der Bad Schandauer Historie verloren. „Mit dem Schornstein ist wieder ein Stück Industriegeschichte weg“, sagt Wilfried Schwesinger. „Das setzt sich leider in ganz Sachsen fort.“ Doch dann erinnert er sich an einen Spruch, den sie früher schon immer gesagt haben: Das Alte stürzt, das Neue bricht sich Bahn. Was könnte passender sein?