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Dürfen Deutsche Opfer sein?

Millionen Deutsche verloren nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat in den Ostgebieten. Viele von ihnen stammten aus dem heutigen Polen und Tschechien. Wie wird dort an diese deutsche Vergangenheit erinnert?

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© dpa

Von Eva Krafczyk und Michael Heitmann

Breslau/Prag. Schon Wochen vor dem 70. Jahrestag des Kriegsendes gibt es in polnischen Medien Berichte über die Dramatik der letzten Kriegswochen, etwa die „Festung Breslau“. Im heutigen Wroclaw wird es eine Ausstellung geben über das Sterben der Stadt, die wie kaum eine andere für deutsche und polnische Vertreibungsschicksale steht.

In der niederschlesischen Metropole fand 1945 und in den folgenden Jahren ein fast vollständiger Bevölkerungsaustausch statt: Die Deutschen mussten gehen, die neuen Einwohner waren Polen aus dem ostpolnischen Lwow (Lemberg, heute Lwiw). Auf der Konferenz von Jalta hatten die Alliierten die Westverschiebung Polens beschlossen. Zur Entschädigung für den Verlust seiner Ostgebiete, die an die Sowjetunion fielen, erhielt Polen die deutschen Ostgebiete.

Die Menschen, die nicht in den letzten Wochen und Monaten des Krieges geflohen waren, mussten gehen. In der deutschen Geschichtsschreibung ist von Vertreibung die Rede, in der polnischen von „wysiedlenie“, Umsiedlung. Die kommunistischen Behörden in der Nachkriegszeit sprachen von der Wiedergewinnung urpolnischen Gebiets. „Die Steine von Breslau und Stettin sprechen Polnisch“ hieß es damals.

Ängste vor deutschen Vertriebenenorganisationen und ihrer Forderung auf ein „Recht auf Heimat“ zu schüren, wurde Teil der Politik. Dass Deutschland die Oder-Neisse-Grenze nicht anerkannte, die einstigen Ostgebiete jahrzehntelang in Schulbüchern und Atlanten als „unter provisorischer polnischer Verwaltung“ angezeigt wurden, half nicht, eine Annäherung zwischen beiden Staaten zu erreichen.

Heute ist das anders. Schlesien, Pommern oder Ostpreußen sind für die meisten Enkel und Urenkel der damaligen Flüchtlinge und Vertriebenen keine Sehnsuchtsorte, sondern allenfalls eine ferne Herkunft ihrer Familien. Die Polen, die dort zum Teil in vierter Generation leben, haben spätestens seit dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag die Angst vor einer Rückkehr der Deutschen verloren.

Die deutsche Vergangenheit übt für viele eine gewisse Faszination aus. In Umfragen zum Verhältnis zum Nachbarn verliert die Vergangenheit an Bedeutung, gerade bei jungen Leuten.

„In unserem Dorf ist doch in fast jedem Haus noch irgendein Gegenstand aus deutschen Zeiten - eine Wanduhr, eine Kaffeegeschirr, oder alte Fotos auf dem Dachboden“ begründet Dorota Borodaj. Die junge Warschauer Kulturwissenschaftlerin stammt aus dem niederschlesischen Dorf Kotla, einst Kuttlau. Dort initiierte sie im vergangenen Jahr ein Projekt zur Bergung alter deutscher Grabsteine. Die Reaktionen im Dorf waren fast durchweg positiv.

„Für viele junge Leute ist es interessant, die Vergangenheit ihrer Heimatregion kennenzulernen“, sagt der Historiker Krzysztof Ruchniewicz über das Interesse auch an der deutschen Vergangenheit. Der Direktor der Willy Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien ist selbst einer jener heutigen Breslauer. Besuchern, die sich für die Geschichte seiner Heimatstadt interessieren, empfiehlt er etwa den Besuch des Denkmals der verlorenen Friedhöfe. Mit Grabsteinen von deutschen evangelischen, katholischen und jüdischen Friedhöfen, die während des Krieges oder nach 1945 zerstört wurden, erinnern sie an die früheren Bewohner.

Ganz selbstverständlich reden heute viele Polen von „Breslau“ oder „Danzig“, wenn sie über Ereignisse in diesen Städten zu „deutscher“ Zeit sprechen. Erst vor wenigen Wochen öffnete im oberschlesischen Radzionkow ein Dokumentationszentrum, das die Geschichte der in die Sowjetunion verschleppten Oberschlesier der Nachkriegszeit darstellt. Im Vorjahr erregte ein Bildhauer aus Danzig russische Proteste, als er eine Skulptur mit dem Titel „Komm, Frau“ schuf, mit der die Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee thematisiert wurden.

Dass Deutsche im Zweiten Weltkrieg nicht nur Täter waren, sondern dass es auch zivile Opfer gab, die einen hohen Preis für die Verbrechen der Nationalsozialisten zahlen mussten, wird von vielen Polen nicht bestritten. Allerdings gab und gibt es große Vorbehalte, wenn der Eindruck entsteht, dass mit der Betonung deutscher Opfer versucht wird, von deutscher Schuld abzulenken. Das wurde vor einigen Jahren deutlich bei der Debatte um das „Zentrum gegen Vertreibungen“. Vor allem Erika Steinbach, die damalige Präsidentin des Bunds der Vertriebenen, wurde von vielen Polen misstrauisch beobachtet.

Für viele Tschechen war die Vertreibung eine logische Folge des Zweiten Weltkriegs. Man spricht nicht von Vertreibung, sondern vom „odsun“, der Abschiebung. In Umfragen halten es mehr als ein Drittel der Tschechen für gerecht, dass knapp drei Millionen Deutsche nach den Gräueln der Nazis gehen mussten. Ein Viertel der Befragten möchte am liebsten einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Nur die wenigsten halten eine Entschuldigung für angemessen.

Die Aufarbeitung der Vertreibung, bei der Historikern zufolge bis zu 40 000 Menschen starben, hat gerade erst begonnen. Voran gehen dabei Künstler und Bürgerinitiativen. Große Bühnen setzen das Thema auf ihren Spielplan, wie etwa das Mährisch-Schlesische Theater mit dem Stück „Odsun!!!“. Regisseur Ivan Buraj erklärt: „Wir wollen zeigen, dass die Vertreibung nicht nur ein Konflikt zwischen zwei Nationalitäten war, sondern Ergebnis einer Zivilisationskrise.“ Bürgerinitiativen wie „Antikomplex“ informieren in Ausstellungen etwa über das Schicksal verlassener Ortschaften.

Forderungen der Vertriebenenverbände nach Entschädigung oder Rückgabe beobachtet man in Tschechien traditionell mit großem Misstrauen. Dass die Führung der Sudetendeutschen Landsmannschaft seit neuestem nicht mehr auf der „Wiedergewinnung“ der Heimat pochen will, wird allseits als überfälliger Schritt begrüßt. Die dafür erforderliche Änderung in der Satzung des Verbands ist bisher noch nicht rechtskräftig. (dpa)